Bevor der Morgen graut
schaukeln.
»Hilfe ist unterwegs«, versuchte er trotz seiner Atemlosigkeit so laut wie möglich zu rufen. Da die Gondel viele Meter über dem Boden schwebte, konnte er nichts unternehmen. Als er noch einige Male gerufen hatte, hörte das Hämmern auf. Birkir drehte er sich um und stieg langsam nach unten. Er ging wieder in die Skihütte und wählte die einzige Nummer, an dieer sich in diesem Augenblick erinnern konnte. Es verging eine ganze Weile, bis jemand dranging
»Gunnar hier.«
»Ich bin’s«, sagte Birkir.
»Wie spät ist es eigentlich?«, fragte Gunnar.
»Keine Ahnung.«
»Hör mal, hat das nicht Zeit? Ich bin mit einer Frau zusammen, und du weißt, das kommt nicht häufig vor.«
»Ich habe den Ganter gefunden.«
»Brauchst du Hilfe?«
»Nein. Es ist alles vorbei. Ich wollt’s dir bloß sagen.«
»Prima. Und wer ist er – der Ganter?«
»Dieser Bursche aus Akureyri, Jóhann. Der eine von den so genannten Zwillingen.«
»Im Ernst?«
»Ja. Also …«
»Hör zu«, sagte Gunnar. Er senkte die Stimme: »Diese Frau, mit der ich zusammen bin … Ich hab vor, daraus was werden zu lassen.«
»Was denn?«
»Eine Beziehung, verstehst du.«
»Ach so, das hast du gemeint.«
»Ja.«
»Na dann viel Glück. Wir sehen uns später, bis dann«, sagte Birkir und beendete das Gespräch.
Er ging wieder hinaus und ließ seine Blicke über das Lavafeld wandern. Es herrschte eine sonderbare Ruhe über allem, aber trotzdem schien eine geheimnisvolle Spannung in der Luft zu liegen. Wie ein Laut, der aber gar kein Laut war.
Jóhann war nirgends zu erblicken. Es konnte schwierig werden, ihn zu finden, wenn er ziellos durch die Lava irrte. Aber noch während Birkir darüber nachdachte, hörte er plötzlich einen einzelnen Knall in einiger Entfernung. Nur einen Schuss,dann herrschte wieder Totenstille. Die Spannung ließ nach, und Birkir spürte, wie seine Nerven sich entspannten und die Schultern sich entkrampften. Es war ausgestanden.
Wieder blickte Birkir zum Himmel und sah jetzt, dass es bald hell werden würde. Es war lange her, dass er das erste Licht des Morgens am Himmel gesehen oder sich die Zeit genommen hatte, es in Ruhe zu betrachten. Da gab es doch ein Wort, das genau diesen Vorgang beschrieb. Es wusste, dass er es vor kurzem in einem Liedtext gehört hatte, an den er sich in diesem Moment nicht erinnern konnte. Alles andere um sich vergessend, suchte sein ausgelaugter Geist nach dem Text, und es hatte fast den Anschein, als spiele nichts anderes eine Rolle mehr. Alles andere war wertlos und nichtig. Ein Wort, nur ein einziges Wort. Erst als er ganz in der Ferne hörte, dass sich Autos näherten, kamen ihm die ersten vier Zeilen wieder ins Gedächtnis:
Farben spielen, Feuer lodert
wenn der Morgen endlich graut
frische Brise, neuer Mut
durch die Adern strömt das Blut
Und dann noch eine Strophe:
Erste Strahlen grüßt du froh
Nacht entflieht und mit ihr Träume
Zarter Duft von Heide weht
bis der Tag zur Neige geht
Da war das Wort:
Morgengrauen.
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