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Bevor du gehst

Bevor du gehst

Titel: Bevor du gehst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Preller
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sich müde, kaputt. Ächzend griff er nach dem Geländer neben der Tür. Dann bemerkte er einen Schatten. Jude stockte. »Mom, ich hab dich gar nicht gesehen.«
    Sie hatte ihren Bademantel an und saß in der dunklen Küche, wartete auf ihren Sohn. »Ich konnte nicht schlafen. Hast du getrunken?«
    Jude hatte die Frage registriert, aber sein Gehirn hatte eine Fehlzündung. »Alles okay, Mom. Jetzt bin ich ja zu Hause. Ich geh ins Bett, und du legst dich besser auch hin.«
    Er sah sie an. Ihr Haar wurde allmählich grau, ihre Augen waren rosa und klein. Sie wirkte so zart und zerbrechlich. Seit Lilys Tod war seine Mutter nicht mehr dieselbe. Sie war zugleich anwesend und abwesend. Hier und nicht hier.
    Jude machte ein paar Schritte die Treppe hinauf und verlor beinah das Gleichgewicht. Auf der fünften Stufe setzte er sich hin, die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in den Händen.
    Seine Mutter stand auf und setzte zögernd einen Fuß vor den anderen. »Ist alles in Ordnung mit dir, Jude? Kann ich dir irgendwie helfen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Es ist bloß … war ein Scheißabend heute.« Er hob den Kopf und wartete, bis er wieder klar sah.
    Seine Mutter starrte ihn an. Ihre Arme baumelten nutzlos herab wie bei einer Marionette mit durchgeschnittenen Fäden. Sie rührte sich nicht, stand da wie festgewurzelt; sprach nicht, fand keine Worte.
    »Nacht, Mom.« Jude erhob sich langsam. »Ich hab dich lieb.«
    Sie nickte unmerklich im Dunkeln, doch ansonsten blieb sie ohne Reaktion.
    Das Herz düster vor Verwirrung kletterte Jude die Treppe hinauf und fiel – geräuschlos, gedankenlos, traumlos – ins Bett.

15
    Jude tatschte dreimal auf die Schlummertaste seines Weckers, bis er endlich aus dem Bett fand. Alles fühlte sich sauer an, sein Mund war schal und ausgetrocknet, und die Zähne trugen Pullover nach einem Abend voller Cola mit Rum und Liebeskummer. Im Haus herrschte Stille. Jude schlurfte ins Bad und gab sich eine lange, belebende Dusche. Das half. Als er kein frisches Arbeitsshirt fand, fischte Jude das sauberste schmutzige Hemd aus dem Wäschekorb. Schnupperte daran und rümpfte die Nase: ziemlich muffig. Aber immerhin ensprach das Shirt seiner Laune. Wütend auf die ganze Welt.
    In der Küche kippte Jude ein großes Glas Orangensaft hinunter. Ein Zettel auf der Arbeitsplatte teilte ihm mit, dass sein Vater zu einem ausgedehnten, langsamen Lauf aufgebrochen war. Sein Vater lief, um allem zu entfliehen, doch trotz der vielen dokumentierten Stunden und absolvierten Kilometer kehrte er immer wieder an denselben Ort zurück; nie trug ihn die Straße fort in ein neues, funkelndes Anderswo.
    Jude hielt sich für eine völlig andere Art von Läufer. Sein Vater joggte , Jude lief . Damit fing es schon an. Ein großer Unterschied. Sein Vater gehörte zu diesen alten Typen, die nach dem Lauf ausgepumpt und ächzend stoppten und auf ihre Uhr starrten, um mit zwei Fingern am Hals den Puls zu messen. Der reine Schwachsinn, wenn man Jude fragte. Häufig zog Jude einfach nur in Shorts los. Kein Hemd, keine Schuhe, ein barfüßiger Läufer im Vorort. Aber niemand konnte sich darüber mokieren, denn Jude war schneller als alle anderen.
    Seine Mutter war eine unverbesserliche Spätaufsteherin; Jude sah sie nur selten, bevor er zur Arbeit ging. Es war wichtig, dass er was aß, also schlug er drei Eier in eine Schüssel, verquirlte sie mit einer Gabel und fügte einen Schuss Milch hinzu, während in der Pfanne schon ein Stück Butter zischte. In eine zweite, kleinere Pfanne warf er Schinkenstücke. Inzwischen war er ein ganz passabler Koch, und Omelett mit Schinken und Käse war seine Spezialität. Für größere Mahlzeiten war seine Mutter in der letzten Zeit – oder waren es schon Jahre? – nicht mehr zu haben, daher hatte sich Jude angewöhnt, für sich selbst zu sorgen. Früher hatte sie als Verkäuferin von Sanitätsartikeln gearbeitet, doch nachdem Lily gegangen war, änderte sich alles. Schließlich wurde sie entlassen, weil sie sich zu oft krank meldete und …
    Nachdem Lily gegangen war.
    Immer diese Phrase.
    Diese vier Worte, die sein Leben wie ein Schwert in zwei Teile schlugen.
    Alle redeten so. Leere Worte in gedämpftem, höflichem Ton. Nachdem Lily gegangen war.
    Gegangen? Vergangen? Und was war mit der Gegenwart? Sie war geprägt durch die Abwesenheit, durch das, was nicht mehr da war. Der leere Spiegel, nachdem jemand das Zimmer verlassen hat.
    Lily war tot, daran ließ sich nicht rütteln, die

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