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Bevor du gehst

Bevor du gehst

Titel: Bevor du gehst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Preller
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Sache war erledigt. Trotzdem fiel sie ihm jeden Tag ein. Eine Besucherin, eine Nachbarin, die an der Tür klingelte. Um eine Tasse Zucker zu borgen? Oder aus anderen Gründen? Sinnlose Fragen. Manchmal rief er nach ihr, beschwor Bilder von ihr herauf wie ein Zauberer. Lily beim Spielen, ihr kleiner Körper, der sich angefeuert von ihren Eltern und ihrem Bruder in einem Hula-Hoop-Reifen wand. Wie sie beide Schulter an Schulter auf dem Parkettboden zeichneten. Auf Lilys Drängen hin kopierte Jude Comics aus der Zeitung, und sie malte sie aus. Er lachte über ihre verrückten Farbzusammenstellungen. Das Gras blau, die Sonne grün, der Himmel ein grelles Gemisch aus Orange und Pink. Lily hatte nie etwas daran auszusetzen und Jude auch nicht.
    An den meisten Tagen erinnerte er sich nicht absichtlich. Lily kam ungebeten zu ihm, eine geisterhafte Gestalt, ein holografisches Bild aus einer Traumwelt. Er kam an einem Spielplatz vorbei und sah, wie sie untätig auf einer Schaukel saß, als würde sie darauf warten, angestoßen zu werden. Oder er bemerkte hier auf seiner Straße eine von Lilys früheren Spielkameradinnen auf einem Fahrrad – die kleine Zoe Buchman, die inzwischen älter war, die immer noch wuchs und lebte. Dann brandeten die Erinnerungen heran und überschwemmten seine Gedanken mit Bildern und Sätzen. Zum Beispiel ihre doofen Lieder – Bah, bah, schwarzes Schaf, hast du Pizza? , – ihr Lächeln und ihr Lachen. Jude wusste noch genau, wie sein Vater ihre Sachen in Schachteln packte und sie in den Speicher trug. Doch zum größten Teil war Lilys Zimmer noch immer unverändert, unberührt von der Zeit: Darauf hatte seine Mutter bestanden. Jude wagte es – seit damals – nicht mehr, dort einzutreten, aber er konnte es sich noch immer gut ausmalen: der riesige Teddybär in der Ecke, die Plakate mit Ballerinas an den rosa Wänden.
    Verschwunden, und doch war sie überall.
    Sie fehlte ihm so.
    Sie hatten eine Art Schrein aus ihrem Zimmer gemacht, ein Mausoleum mit ihren Spielsachen. Jude fand das seltsam und verstörend. Seine Mutter redete immer vom Gästezimmer, aber wem wollte sie was vormachen? Niemand kam zu Besuch. Es war das Lily-Museum, ein Kerker für ihre Seele. Ein einziges Mal hatte Jude sich dort umgesehen, und dann nie mehr, genauso wenig wie sein Vater. Doch manchmal erwischte er seine Mutter dort, wie sie bei offener Tür still auf einem Stuhl saß, die Hände im Schoß gefaltet, als würde sie auf einen Bus oder etwas anderes warten, um fortgebracht zu werden.
    Sein Handy vibrierte. Becka – schon wieder. Gestern Abend hatte sie es zweimal versucht, und beide Male hatte Jude ihre Nachrichten ignoriert, bevor er das Telefon schließlich ganz ausschaltete. Er brachte es einfach nicht über sich. Noch nicht. Hatte sie ihn in der Bowlinghalle bemerkt? Hatte sie mitgekriegt, dass er sie beobachtete? Oder dass er sich umdrehte und wegging? Oder wollte sie ihn bloß zur Arbeit mitnehmen?
    Kurz hatte Jude mit dem Gedanken gespielt, hinzulaufen – es würde ihm guttun, das Gift rauszuschwitzen und seinen Kopf durchzupusten –, doch er wusste, dass heute Morgen kein Leben in seinen Beinen war.
    Also nahm er den Bus.
    Becka war schon in der Arbeit und saß hinter ihrer Kasse. Jude werkelte herum und schaffte es, jeden Blickkontakt zu vermeiden. Jessup hockt zusammengesunken hinter seinem Schreibtisch, die Augen dick geschwollen. Eine Allergie oder was Schlimmeres. »Du siehst furchtbar aus«, meinte Jude nicht ohne Mitgefühl.
    Jessup nickte und sagte, dass er sich sogar noch schlechter fühlte. Mit heiserer Stimme wies er Jude an, im Essbereich sauberzumachen. Jude nahm Lappen, Eimer und Besen, um zwischen den gelben Tischen herumzustreifen und den Boden nach heruntergefallenen Pommes, benutzten Servietten, flatternden Hotdog-Verpackungen und sonstigem vom Wind herangewehtem Müll abzusuchen. Die meisten Leute machten sich nicht die Mühe, nach dem Essen ihre Tische zu reinigen, in der Annahme, dass das jemand anders erledigen würde. Und damit lagen sie richtig: Jemand erledigte es, und zwar ein armes Schwein, das einen gemeinen Kater hatte und den Namen Jude Fox trug.
    Er war benommen und wütend, hinten an seiner Zunge klebte ein bitterer Geschmack. Aus alter Gewohnheit versuchte Jude, alle Gedanken wegzuschieben und sich auf die strahlende Morgensonne zu konzentrieren, doch es war zwecklos. Immer wieder jaulten in seinem Kopf die gleichen trüben Gefühle auf. Vergangene Nacht hatte Corey sich

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