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Bevor du gehst

Bevor du gehst

Titel: Bevor du gehst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Preller
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spüren. Roberto beschwerte sich über die Möwen, die er als »Ratten mit Flügeln« bezeichnete.
    Jude schielte kurz zu Daphne, um zu sehen, wie sie darauf reagierte. Wahrscheinlich mochte sie Ratten. Doch das dünne Mädchen mit den großen Augen hatte den Kopf zu Becka geneigt und war tief in eine geflüsterte Unterhaltung mit ihr versunken.
    DaJon nahm einen Schluck aus dem Senfbehälter und wischte sich mit dem Arm den Mund ab. »Das wird sonst immer über Tauben gesagt. Ratten mit Flügeln.«
    »Klar, wenn man in der Stadt lebt, sind es die Tauben«, räumte Berto ein. »Aber hier sind es die Möwen. Die Leute finden es immer so toll, wenn sie im Wind aufsteigen, aber diese Leute sollten mich mal zum Müllcontainer begleiten. Dann würden sie schnell merken, wie Möwen drauf sind.« Er nippte kurz an dem Bier und setzte das Gefäß wieder ab. Dann erschauerte er. »Widerliche Viecher.«
    Roberto schaffte es, sich in den Mittelpunkt zu stellen, ohne es zu übertreiben. Er erzählte witzige Geschichten über seine kubanische Großmutter Mam-Maw und sorgte dafür, dass das Gespräch nicht versiegte. Als er gerade mit Feuereifer eine Story zum Besten gab – »Zuerst dachte ich: Was? Dann dachte ich: WAS ?! « –, vibrierte Judes Handy.
    Warum bist du heute so komisch?
    Jude las den Text und spähte hinüber zur Absenderin, die ihm einige Meter entfernt gegenübersaß. Beckas Augen blitzten bang.
    Sie stand auf und streckte sich. »Ich geh mal kurz runter zum Wasser. Kommst du mit, Jude?«
    Jude blieb kaum etwas anderes übrig, als ihrer Einladung zu folgen. Roberto warf ihm einen unruhigen Blick zu und zuckte fast unmerklich die Achseln. Viel Glück , schien er mit seiner Geste zu sagen.

16
    Schweigend gingen Jude und Becka zum Wassersaum. Becka steckte sich einen Kaugummi in den Mund. Jude musste daran denken, wie viel von dem Zeug er von den Tischen gekratzt hatte, und – scheiß drauf – bat trotzdem um einen.
    »Kaum öffnest du eine Packung Kaugummi, schon hast du nur noch Freunde.« Becka lachte.
    Jude lächelte – er konnte nicht anders – und nahm den Kaugummi aus ihrer Hand. Die Brandung jetzt am späten Nachmittag war nahezu perfekt, und die Wellen rollten in rhythmischer Abfolge heran, bevor sie sich brachen und auf den Sand donnerten wie weiße Pferde, die zum Strand galoppierten. »Brechende Wellen«, murmelte Jude. Er lauschte auf das Dröhnen des Ozeans und stellte es sich als Klanglandschaft vor, als Musikstück. Er spürte das trockene Ziehen der Salzluft auf der Haut.
    Becka rollte die Hose bis zu den Knien hinauf und watete ein paar Schritte in die warme, seichte Gischt. »Hast du schon mal nackt im Meer gebadet?«, fragte sie. »Einfach traumhaft.«
    Jude blieb stumm. Sie wusste nichts von seinem inneren Aufruhr. Der Strand hatte sich inzwischen fast geleert, nur noch einige Nachzügler waren da, Familien, die die letzten Minuten herausschlagen wollten, bevor sie in ihr Auto stiegen, ein paar Jogger in beide Richtungen, ein einsamer Angler, der seine Schnur hinaus ins Meer geworfen hatte und mit gebeugtem Rücken auf einen Fang wartete.
    »Wir müssen wieder zurück«, drängte Jude.
    »Die werden schon warten.«
    »Ja, aber …«
    »Ich hab dich gesehen«, sagte Becka. »Gestern Abend in der Bowlingbahn.«
    Jude hob eine Austernschale auf und fuhr mit dem Daumen über die Ränder.
    »Ich hab hochgeschaut, und da warst du«, fuhr Becka fort. »Dann bist du auf einmal verschwunden.«
    Jude zerdrückte die Schale zwischen den Fingern. Sie war trocken und brüchig vom langen Liegen in der Sonne. Er verdrehte die Augen und beobachtete, wie sich am Himmel Wolken zusammenzogen. Zorn durchpulste seinen Körper und stieg ihm in seine Kehle. »Du weißt, warum.« Mehr brachte er nicht heraus.
    »Ich kann es erklären, Jude.«
    »Mir egal«, log er. Er näherte sich ihr durchs Wasser. »Du hättest es mir sagen können, das ist alles. Du hast mich angelogen, Beck. Du hast gesagt, dass du krank bist und nicht ausgehst. Ist er dein Freund?«
    Becka schüttelte den Kopf. Nein . Sie fummelte an den Kordeln ihres Hoodies herum. »Ich hasse es, wenn eine Schnur weiter runterhängt als die andere.« Mit ernstem Gesicht zuckte sie die Achseln. Offenbar wollte sie Zeit gewinnen.
    »Ich dachte bloß …« Er brach ab, weil er kein Ende für seinen Satz fand. Solche Gespräche war er nicht gewohnt. Sie so an sich heranzulassen. Instinktiv wollte er flüchten, sich einfach umdrehen und nach Osten am Strand

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