Bevor du gehst
erfuhr.
Jude legte sich mit dem Rücken auf die Decke. »Kann ich dir was erzählen?«
Er spürte seinen Körper neben ihrem, seinen nackten Arm an ihrer weichen Haut. Sie waren allein zusammen – zusammen, und dennoch allein –, unter ihnen der Sand, der in der Nachtluft bereits abkühlte. Ein gutes Gefühl, so bei ihr zu sein. Seufzend suchte er nach einem Anfang. »Du weißt doch von meiner Schwester Lily … Little Lil haben wir sie immer genannt.«
Becka drückte seine Hand, und durch ihr Herz zog ein Netz von Sprüngen wie über das dünne Eis eines winterlichen Teichs, wenn man fast schon spüren kann, wie man einbricht und in das frostige Wasser stürzt. Ja, Judes Schwester Lily. Eine Trauer, die sie nie kennengelernt hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so ein tiefes Leid berührt. Der Verlust einer Schwester. Es war seltsam, fast exotisch – ein Gefühl, das ihr völlig fremd war. Zugleich fand sie es aufregend, diese körperliche Nähe zu einer traurigen und wichtigen Sache wie dem Tod eines Kindes. Also wartete sie darauf, dass die Worte herabströmten wie blauer Regen. Wie ein düsteres Gedicht aus dem Himmel.
»Es war meine Schuld.« Jude sprach den Satz völlig ohne Emotionen aus. Tonlos, konturenlos. Vier einfache Wörter, aufgereiht wie Soldaten. Es war meine Schuld. Er schielte kurz zu ihr, um zu sehen, ob sie verstanden hatte, dann wandte er den Blick wieder nach oben, als würde er dem Sommerhimmel beichten. »Sie ist wegen mir gestorben.«
»Jude.«
»Nein, es ist wahr. Lass mich ausreden, bitte. Ich möchte es dir erzählen. Weißt du, in unserer Familie gab es immer so eine Vorstellung: Wenn wir die Worte nicht aussprechen, wenn wir es nicht laut sagen, dann ist es vielleicht auch nicht real. Niemand bewegt sich, niemand redet, dann passiert auch niemandem was. Wie bei einem Stromausfall – keine Lichter, totale Dunkelheit, und wir haben so getan, als wäre alles in Ordnung. Lil war tot. Und wir haben einfach weitergelebt, in dieser Dunkelheit, sind gegeneinander gestoßen, haben uns entschuldigt, sind hingefallen, haben uns wehgetan und ständig Sachen gesagt wie ›Tut mir leid‹, ›Macht nichts‹, ›Keine Sorge, alles gut‹, ›Bitte, verzeih mir‹ und ›Unfälle passieren eben‹.«
Seine Stimme klang jetzt eindringlich und bitter, überhaupt nicht nach ihm. Jude öffnete eine Kellertür für sie und führte sie über ein knarrende Treppe hinab zu einem dunklen Winkel seiner Seele. Das machte Becka Angst. Sie ließ seine Hand los. Am ganzen Körper angespannt hörte sie ihm zu.
Jude fuhr fort. »Immer und immer wieder solche Phrasen: ›Es war ein Unfall, niemand war schuld, solche Dinge passieren nicht ohne Grund.‹ Mann, vor allem diesen Spruch hasse ich. Passieren nicht ohne Grund. Was für ein Schwachsinn.«
»Ich versteh nicht«, wandte Becka ein. »Du hast doch gesagt – hast mir selbst erzählt –, dass sie ertrunken ist.«
»Das stimmt auch«, antwortete Jude. »Ich war dabei. Ich hätte auf sie aufpassen sollen. Aber Mom war so lange weg, und es war heiß an dem Tag, sicher fünfunddreißig Grad. Lily war so gern im Wasser, und wir hatten hinten im Garten den Pool. Stundenlang hat sie in ihren orangenen Schwimmflügeln drin rumgeplanscht.«
Becka hörte seinen abgerissenen Atem, hörte, wie die Worte stoßweise aus ihm hervorbrachen. Er war immer noch neben ihr, hier am Strand, aber zugleich unendlich fern, auf der anderen Seite eines unüberwindbaren Abgrunds. Oben die Sterne waren fahlgelbe Punkte, Stecknadeln in einem Samttuch, und sie sehnte sich danach, dieses Licht zu sein, das auf ihn herabschien.
»Das war meine Aufgabe: ›Pass auf Little Lil auf, bis ich heimkomme.‹ Mit diesen Worten ist Mom weggefahren. Wohin, weiß ich nicht. Bis auf den heutigen Tag bin ich mir nicht sicher, wohin genau sie eigentlich gefahren ist. Muss wohl irgendwie wichtig gewesen sein. Ich weiß bloß, sie hat mich mit Lily allein gelassen und mir gesagt, ich soll mich um meine Schwester kümmern.«
»Wie alt warst du da?«
»Neun«, erwiderte Jude. »Lily war gerade vier geworden.«
»Neun Jahre? Sie ist weggefahren, und du musstest ganz allein auf deine Schwester aufpassen?«
»Das hab ich oft gemacht.« Judes Stimme war jetzt ungleichmäßig, brüchig und zerklüftet. Ohne jede Kraft.
Halb zu ihm gewandt stützte sich Becka auf einen Ellbogen. Sie strich ihm die Haare aus dem Gesicht und sah das Spiegelbild der scharfen Mondsichel in seinen Augen.
Bebend
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