Bevor du gehst
schleppten Kühlboxen an. Es war ein warmer, windstiller Abend. Jude stellte Corey seinen Kollegen vor, unter anderem Ivan, DaJon und Billy. Corey und Roberto begrüßten sich wie lange verschollene Pingpongpartner.
Roberto packte Jude an den Schultern und intonierte mit feierlicher Stimme: »Wie hat Ron Burgundy in An chorman gesagt: ›Seien wir einen Abend lang keine Ko- Llegen , sondern Ko-Menschen .‹«
Coreys Blick wanderte zu zwei Mädchen, die sich dem Platz näherten. »Ist sie das?«
Ja, sie war es. Becka Bliss war zusammen mit Daphne gekommen, mit der sie sich in letzter Zeit angefreundet hatte. Becka trug eine kurze Sporthose und ein Baseballtrikot mit Dreiviertelärmeln, dazu eine Mets-Mütze, mit dem Schild nach hinten. Sie sah aus wie eine Sportlerin, spielbereit und süß wie ein Hündchen. Daphnes Haar war nach hinten gezurrt und brachte ihre feinen, porzellanartigen Gesichtszüge zur Geltung. Ihr Shirt saß sehr knapp und zeigte einen straffen, gebräunten Bauch. Es war einer der Momente, in denen ein scheinbar durchschnittliches Mädchen – bisher nicht erfasst vom männlichen Radar, das die Ozeane absucht wie ein Atom-U-Boot – plötzlich auftaucht und alle umhaut. Meistens ergibt sich diese Offenbarung im September nach neun Wochen Ferien und endet mit erstaunten Fragen: »Hast du Daphne gesehen? Wie ist denn das passiert?«
Das Spiel war kaum ein athletischer Wettkampf zu nennen. Sie waren nur ein paar Leute, die herumalberten, auf groteske Weise danebenhauten, mit einem Bier in der Hand herumstanden und mehr darauf bedacht waren, nichts zu verschütten, als Bälle zu fangen. Alle lachten und hatten Spaß. Corey spielte allerdings ausgezeichnet: Er schlug ewig weite Bälle und sauste wie ein Jaguar ums Feld. Daphne schien sich für ihn zu interessieren, und Corey genoss ihre Aufmerksamkeit.
»Gefällt sie dir?«, fragte Jude seinen Freund später.
»Becka? Ja, sie ist klasse. Ich mag Mädels, die ein Double Play schaffen«, antwortete Corey.
»Ich meine Daphne.«
Corey ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. »Ist sie frei?«
»Anscheinend hast du Chancen bei ihr. Meinst du, du kannst dich nachher mitnehmen lassen? Wenn Becka und ich …« Jude ließ den Satz unvollendet.
»Zur Not hat Roberto ja sein Auto«, meinte Corey. »Das geht schon klar, Jude. Ihr zwei könnt unter dem Bohlenweg rumknutschen, oder was euch sonst so einfällt in eurem jugendlichen Leichtsinn. Wer weiß? Vielleicht finde ich sogar eine attraktive Fahrerin.« Er stand auf und schlenderte hinüber zu Daphne, um sich lässig wie James Dean neben sie zu setzen. Das strahlende Lächeln, mit dem sie sich ihm zuwandte, sagte Jude, dass er sich keine Sorgen um Coreys Mitfahrgelegenheit machen musste.
Nach dem Match zerstreuten sich alle in verschiedene Richtungen. Corey und eine große Gruppe, zu der auch Daphne gehörte, machten sich auf zum Bohlenweg in Field Four. Jude und Becka trennten sich von der Masse, inzwischen wollten sie am liebsten nur zu zweit sein. Barfuß liefen sie hinunter zum Atlantik. Im Gehen legten sie sich eine große Decke, die Becka mitgebracht hatte, um die Schultern und schmiegten sich eng aneinander. Als sie sich ein Stück von den Lichtern am Bohlenweg entfernt hatten, sah Becka hinauf zum Nachthimmel. »So viele Sterne.« Sie deutete nach oben. »Und zunehmender Mond. Es ist wunderschön, Jude.«
Sie stoppten auf dem Kamm des Strandes, bevor er zur Brandung abfiel, und breiteten die Decke aus. Becka sagte: »Es heißt, jeder Stern ist eine Seele, die zu uns herunterschaut.«
Nachdenklich spähte Jude hinauf. »Du meinst, wenn man stirbt …«
»Wird man ein Stern. Meine Mutter sagt, dass die Leute keine Seelen haben ; wir sind Seelen.«
»Also glaubst du an Gott?«, fragte er.
Mit großem Ernst sah sie ihn an. »Ich glaube an Magie.«
Eine neue Stimmung erfüllte Jude, eine rastlose, wortlose Stille. Er betrachtete die Sterne und dachte an Lily, seine verlorene Schwester.
Wenn ich nur, wenn sie nur …
»Was ist?« Becka zögerte. »Manchmal kriegst du diesen Gesichtsausdruck, und dann bist du auf einmal ganz weit weg.«
Corey war der Einzige, dem Jude sein Geheimnis verraten hatte. Natürlich kannten auch seine Eltern die Wahrheit. Doch aus Gründen, die er nicht erfassen konnte, ahnte er jetzt, dass sich irgendwo in seinem Bauch die weggesperrten Worte bildeten und nach oben drängten wie ein innerer Dämon, der ausgetrieben werden musste. Er wollte, dass Becka es
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