Bevor du gehst
Ereignisse des Alltags wälzten sich träge vorbei wie Wäsche in einem Trockner, ein Wirrwarr aus Eindrücken und Erinnerungen, vermischt mit der Realität, die ausgebleicht ist wie alte Fotos. Das grelle Flimmern des Fernsehbildschirms, das Kratzen von Besteck beim unbehol fenen Abendessen, verschüttete Getränke und hastige Entschuldigungen, dunkle Flure und geschlossene Türen, Wolken und Graupel, beschwörendes Flüstern, flackernde Flammen von Kerzen in Kirchen.
Corey war nicht mehr da.
Kann das sein? Kann so etwas wirklich passiert sein? Hatten sie nicht gerade noch herumgeflachst, Golfbälle in die Ferne gedroschen, Videospiele gespielt, bescheuerte Filme geguckt und gelacht, gelacht?
Jude war völlig ausgepumpt, die ganze Zeit nur müde. Trotzdem fand er nachts keine Ruhe und schlief untertags immer wieder ein. In einem Sessel, den Kopf in die Hände gestützt am Esstisch. Nichts in seinem Leben passte mehr zusammen; alles nur Schnipsel und Bruchstücke, Scherben eines zerborstenen Spiegels, die in grotesker Unordnung vom Boden heraufglitzerten. Wer bin ich? Jude grübelte. Und warum? Immer musste er an Corey und Lily denken. An manchen Morgen, an zu vielen Morgen hing Jude zusammengekrümmt in der Dusche, und aus seinen Augen sickerten die Tränen, sickerte das Leben. Er fühlte sich leer, ausgehöhlt wie ein Halloweenkürbis.
Jude erinnerte sich.
Sie hatten ihn in einem Krankenwagen weggebracht. Aber zuerst Corey. In hektischer Anspannung transportierten sie Corey ab, und Jude, mitgenommen und zerschlagen, saß mit brummendem Schädel da und sah, wie das Fahrzeug mit rotierenden roten Lichtern davonraste. Das Atmen tat weh, und er fragte sich, ob sich die Anstrengung überhaupt noch lohnte. Kein Wunder bei drei geprellten Rippen. Doch auch das Leben selbst kann zu qualvoll sein. Zu viel, zu viel Stoff zum Nachdenken. Also filterte er es, verarbeitete, was ging, und blendete den Rest aus.
Als Kind waren Jude die Weisheitszähne gezogen worden. Die Assistentin des Zahnarztes setzte ihm eine Atemmaske aufs Gesicht. Lächelnd drehte sie an einem Knopf und setzte Lachgas frei, das sie »süße Luft« nannte, und bald darauf konnten sie zerren und drücken, es war Jude völlig egal. Mach, was du willst, Doktor! Reiß, soviel du willst! Hauptsache, das Gas strömt weiter. Er erwachte im Bett mit dem süßen Geschmack von Blut auf der Zunge, und sein geschwollener Mund war mit Watte vollgestopft. Sie gaben ihm etwas gegen den Schmerz. Ja, er wusste noch, wie das Pochen zurückging. Der Schleier, der sich darüberlegte. »Etwas zum Dämpfen«, so drückten sie es aus. Er schlief einen traumlosen Schlaf ohne Erinnerungen. Aber als er aufwachte, war der Schmerz wieder da.
22
Das Begräbnis machte einen surrealen Eindruck auf Jude: eine bizarre Theateraufführung unter der Regie eines Irren. Er fühlte sich wie ein Bühnenrequisit zwischen Trauernden aus Pappe. Auftritt des in Schwarz gehüllten, bekümmerten Freundes. Vielleicht lag es an den vertrauten Gesichtern von Schülern und Lehrern an der Highschool, die sich alle um ein angemessenes Benehmen bemühten, Akteure in einer Pantomime des Leids. Die Mädchen in Tränen, die Jungen mit bedrückten Gesichtern und hängenden Schultern, eingeklemmt in schlecht sitzende Jacketts und geliehene Krawatten. Alle taten ihr Bestes, um erwachsen zu wirken. Die sonst glatten Gesichter entstellt vom Kummer. Jude wandte den Blick ab. Er brachte es nicht über sich, sich unter seine Schulfreunde zu mischen, mit ihnen zu reden und die hohlen Worte auszusprechen, die von allen Seiten durch die hohe Kirche schwirrten.
Er war so ein fantastischer Mensch.
Eine schreckliche Tragödie.
Es war Schicksal.
Plopp, plopp, plopp. Die Floskeln prasselten herab. Die absolute Tatsache von Coreys Tod ließ sie alle zerplatzen. Für Jude gab es nichts zu sagen, nichts zu glauben. Doch am erstaunlichsten war, dass er fast gar nichts fühlte, so als wären seine Nervenenden betäubt. Verätzt, abgestorben. In seinem Herzen war eine Wunde, aus der seine Seele entwich wie Luft aus einem Ballon. Er blieb in der Nähe seiner Eltern, stakste mit ihnen durch den Gang, saß zwischen ihnen eingekeilt auf der harten Bank, kniete und stand auf, wenn das Zeichen kam. Doch im Grunde wartete er nur darauf, dass das ganze Theater endlich vorbei war.
Alles wirkte so irreal. Trotz des Sargs, der Trauernden und der bruchstückhaften Erinnerung an diesen Abend auf der Straße erwartete Jude irgendwie,
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