Bevor du gehst
dass Corey jeden Moment grinsend und nach vorne deutend hereingestürmt kam mit den Worten: »Hey, hab ich das nicht gut gemacht!? Hey, hab ich das nicht gut gemacht!?«
Haha, Corey. Da hast du uns aber ganz schön reingelegt, Mann.
Zäh wie Stunden verstrichen die Minuten. Doch Corey tauchte nicht auf. Zeit, Warten. Kein Corey.
Es war also wahr.
Coreys zahlreiche Verwandten füllten die ersten drei Reihen. Von hinten starrte Jude auf die knorrigen Hälse der Männer, auf die Frauen in Hüten und Schleiern. Coreys Eltern standen ganz vorn in würdevoller Trauer, in stolzer Haltung, der Rücken gerade, der Kopf hoch erhoben: »Erlöse uns, Herr, von dem Bösen.«
In einer der hinteren Bänke bemerkte Jude Becka und auch andere Freunde – Berto, Lee, den Hengst. Er war dankbar, dass sie sich zurückhielten und nicht versuchten, ihn zu trösten. Nein, das hätte er nicht geschafft, nicht jetzt, nicht Becka …
Er beobachtete alles mit den Augen eines verletzten Vogels, der aus dem Nest gefallen ist – Jude mit brechendem Blick und gebrochenem Flügel. Doch an diesem geweihten und keimfreien Ort kreisten Judes Gedanken nicht um Corey, sondern kehrten zu Lilys Begräbnis und dem Bild ihres kleinen Körpers auf dem Grund des Pools zurück. Er erinnerte sich an die im Wasser treibende blaugelbe Gummiente, die ihn höhnisch mit ihrem Schnabel angrinste. Jude umklammerte die Lehne der Bank vor sich, bis seine Knöchel weiß wurden. Der alte Priester, der große Hängeohren hatte wie ein Basset, redete und versuchte, die Gäste zu beschwichtigen und das Geschehene zu erklären. Er fragte: »Wenn Gott für uns ist, wer ist dann gegen uns?« Nein, Gott war nicht grausam, sondern liebevoll. Gott war nicht gleichgültig, sondern barmherzig. Unser Erlöser und unsere Kraft. Meiner nicht , dachte Jude. Er fand keinen Trost in den Worten des Geistlichen und spürte nur Verbitterung gegen diese leere Zeremonie. Wie ein Automat kniete er sich hin und stand wieder auf.
»Lasset uns beten«, intonierte der Priester.
»O Herr, erhöre unser Gebet.«
Lautlos formte Jude mit den Lippen die Antworten. Und am Ende fühlte er sich wie ein geschnitztes Stück Eiche, hölzern wie Pinocchio, der davon träumt, ein echter Junge zu werden. Verschluckt vom Wal, tief im Bauch des Monsters, nur mit Streichholzflammen gegen die Finsternis. In seinem Kopf verschwammen die Gedanken. Als schließlich die Musik den großen Raum erfüllte, schossen ihm Tränen in die Augen, doch er rührte keinen Finger, um sie wegzuwischen.
Er schmeckte Salz.
Salzwasser.
Und er fragte sich, ob Becka es auch schmecken konnte.
Er erinnerte sich an das gemeinsame Bad im Meer mit ihr. Der Trick war, dass man an den Brechern vorbeikam. Eine nach der anderen brandeten die Wellen wie angreifende Kavallerie heran, rollten sich ein und zerbarsten in Wolken aus weißem Schaum, und wenn man nicht aufpasste, verlor man den Halt und wurde wie eine Stoffpuppe mitgerissen. Doch wenn man durch und unter die Brecher schwamm, wurde der Ozean auf einmal ganz friedlich wie eine Landschaft aus sanften Hügeln. Das taten Jude und Becka – gemeinsam schafften sie es. Sie schwammen auf dem Rücken, das Gesicht zur Sonne, getragen vom Heben und Senken der Gezeiten. Jude fiel eine Zeile aus einem Gedicht ein, das in der Schule behandelt worden war: »Wasser, Wasser überall, und nirgends ein Tropfen zu trinken.« In seinem Kopf streckte Jude die Hände nach Beckas Fingerspitzen aus, und sie schwebten auf und ab in einem Bad aus Salzwasser. Merkwürdig, es sich als Meer von Tränen vorzustellen, das um sie herum wogte, das sie hinauf- und hinuntertrug. Ebbe und Flut. Einatmen, ausatmen. Er schlug die Augen auf, und Becka verschwand.
Das Meer macht dich krank, treibt dich in den Wahnsinn. Du kannst das Wasser nicht trinken.
Eine Hand fiel auf seine Schulter; sein Vater bot ihm ein Taschentuch an. Mit zusammengekniffenen Lippen zuckte Jude die Achseln. Ein Gewicht drückte auf seine Brust, seine geprellten Rippen. Das Gerüst, das seine inneren Organe schützte – Niere, Leber, Herz –, hatte versagt. Die Musik rührte etwas in seinem Herzen an, einen verlassenen Winkel, den die Worte nicht erreichten. Er nahm sich vor, eines Tages ein Lied zu schreiben, das den gleichen Orgelklang benutzte, und überlegte sich auf der Stelle, wie er die Noten für die Gitarre transkribieren musste. Auch das Herz war eine Orgel. Eine pumpende Muskelmasse. Es musste ein Lied ohne Worte werden, jeder
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