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Bevor du stirbst: Roman (German Edition)

Bevor du stirbst: Roman (German Edition)

Titel: Bevor du stirbst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Grebe , Åsa Träff
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treffen drohte, hob sie ein Windstoß behutsam auf und trug sie sanft zur anderen Straßenseite in Sicherheit.
    Kann ich platzen?, überlegte sie. Wenn mich jemand anfasst, zusticht, werde ich mich dann in einen grünen Spülmittelfleck im Schnee verwandeln?
    Langsam und ohne sich umzusehen, ging sie weiter. Ihre Füße erreichten plötzlich den Boden, und zum ersten Mal spürte sie die Kälte an ihren Knöcheln. Der chemische Cocktail verließ jetzt ihren Körper. Bald würde es nur noch Leere geben, den Hunger nach mehr und eine bohrende Angst.
    Sie bog auf den Fußweg ab, der zur Kirche führte, in den dunkelsten Teil des Parks. Große Bäume umgaben sie, die Wipfel verbargen den sternenklaren Himmel, bildeten ein riesiges, geflochtenes organisches Dach. Es war sehr kalt, und die Kälte kam ihr plötzlich so kompakt und undurchdringlich vor wie eine Betonmauer. Ihre Beine meldeten sich, dazu ein schwaches Ziehen im Unterleib und ein klebriges Gefühl zwischen den Beinen.
    Niemandem etwas sagen, hatte er gemahnt. Du bist nicht »legal«. Sie hatte laut gelacht, über seine Wortwahl und über den Inhalt seiner Worte, über diesen absurden Kommentar. Sie war doch immerhin fast fünfzehn. Kein Kind mehr. Robban und der Kanacke hatten ebenfalls gelacht. Laut und dämlich und ohne irgendetwas zu begreifen, sie waren eben Idioten. Marko hatte sie angeschrien, sie sollten die Fresse halten, und noch immer hatte sein Arm beschützend um ihre Schultern gelegen.
    In dem Moment, in dem sie die massive Klinkerfassade erreicht hatte, hörte sie es. Es war ein ganz anderes Geräusch. Es hatte ebenfalls Farbe und Form, war grau, trocken, rund. Wie eine zusammengeknüllte kleine Papierkugel, nicht größer als ein Apfel, bewegte es sich vor ihrem Gesicht. Ein Tier? Sie streckte in der Dunkelheit vorsichtig die Hand aus, berührte die graue Kugel, die sich augenblicklich in feinen Staub verwandelte, der vom schwachen Wind davongetragen wurde.
    Sie drehte sich dem Gebüsch neben der Kirche zu, aber sie sah nur Dunkelheit und den riesigen Lichtkegel einer entfernten Straßenlaterne, die ein bleiches Licht über den Schnee warf. Dann ein neues Geräusch, ein scharfes, knackendes Geräusch. Abermals starrte sie in die Dunkelheit. Ihre Beine schmerzten vor Kälte, und sie hatte jegliches Gefühl in den Füßen verloren. Sie konnte außerhalb des Lichtkreises, den die Straßenlaterne auf den gefrorenen Boden malte, nichts sehen, aber deutlich konnte sie jetzt Schritte hören, sah sie auch. Kompakte graublaue Würfel aus Klang, die wie Schwalben flogen, hintereinander durch die Nacht. Sie näherten sich ihr von hinten. Wie weit war es noch bis zur U-Bahn? Hundert Meter?
    Zum ersten Mal verspürte sie etwas, das an Angst erinnerte, die Angst drängte sich durch alle Schichten aus Eindrücken und Empfindungen und Farben und erinnerte sie daran, dass sie sich allein in einem Park befand, den sie nie zuvor betreten hatte. Sie vermutete, dass sie eine leichte Beute wäre, dass ihr Zustand sie in Gefahr brachte, dieser Gedanke war trotz des Rausches vorhanden. Und zum ersten Mal seit langer Zeit sehnte sie sich nach ihren Eltern in Farsta. Nach der Geborgenheit und Vorhersagbarkeit in dem grauen Reihenhaus. Nach dem ewigen Geplapper des Fernsehers im Hintergrund und dem Geruch von Bratkartoffeln und Zigarettenrauch. Sogar nach dem erstickend süßlichen Gestank aus dem Zimmer ihres Vaters, wenn die Frau vom Heim pflegedienst seine entzündeten Wunden neu verband.
    Die Kälte zerrte an ihren Armen, und unfreiwillig schüttelte sie sich. Das hier war das Schlimmste – wenn der Rausch abnahm. Wenn der Körper wieder über die Seele gestülpt wurde wie ein Overall und sie nur dastehen und sich anziehen lassen konnte wie eine kleine Rotzgöre.
    Als sie die Parkbänke und den Papierkorb erreichte, die die Mitte des kleinen Parks markierten, hörte sie die Schritte wieder. Diesmal waren sie genau hinter ihr, und sie konnte das Geräusch nicht mehr sehen, hörte es nur.
    Langsam und mit großer Mühe drehte sie sich um und sah eine riesige Männergestalt, die im Licht der Straßenlaterne aufragte. Der Mann ging vornübergebeugt mit langen, eiligen Schritten. In seiner Hand funkelte ein länglicher Gegenstand, sie wusste nicht, was, aber es ähnelte einem Messer.
    Schicht um Schicht ließ der Rausch sie los, wie dann, wenn man eine Zwiebel schält, und ihr kam eine Erkenntnis: Sie wurde in einem dunklen Park von einem Mann verfolgt. Es war Nacht. Sie

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