Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
wäre.
»Was soll das denn? Was machst du da?«
»Entschuldige, Siri.« Markus lacht wieder, und mir geht auf, dass er beschwipster ist, als ich angenommen habe. Er nimmt meine Hand und drückt sie fest.
»Die Straße ist leer, ich habe vorher nachgesehen, glaub mir. Und du bist ganz langsam gefahren, es bestand also keine Gefahr. Wir haben so was gemacht, als wir jünger waren. Wettfahrten auf dem Eis.« Wieder lacht er, und ich mustere ihn, die blonden Haare und die blasse Haut. Die schönen blauen Augen. Er beugt sich vor und küsst mich, und ich merke, wie mein Ärger verfliegt.
»Komm, Siri.« Er öffnet den Sicherheitsgurt und die Autotür. Ich wüsste gern, was er vorhat, gehe aber hinterher. Draußen auf dem Eis ist alles stumm und still. Kein Auto ist zu hören. Überhaupt kein Geräusch. Nur ich und Markus. Die Kälte beißt mir in die Wangen, und unser Atem verpufft zu weißen Wolken. Ich sinke in seine Arme. Lehne den Kopf an seine Schulter, höre seine ruhigen Atemzüge und nehme den Biergeruch wahr.
Er drückt mich an sich, flüstert mir ins Ohr.
»Siri, geliebte Siri.«
Ich streiche ihm die Haare aus der Stirn und küsse seinen Hals.
»Ich liebe dich, Markus.« Das flüstere ich gegen seine Schulter und spüre, wie er mich fester an sich drückt.
Und so stehen wir da, unter dem schwarzen Himmel, unter den unzähligen Sternen. Still. Und denken über das Wunder des Lebens nach.
Wir liegen unter der Decke und schauen aus dem Fenster auf den in der Dämmerung fallenden Schnee. Die Fahrt von Kalix nach Hause verlief problemlos, aber wie immer auf Reisen wurde Erik rasch müde. Er schlief schon gegen fünf auf dem Sofa ein, und wir beschlossen, ihn dort zu lassen, um ihn nicht zu wecken. Wir deckten ihn vorsichtig zu, steckten ihm den Schnuller in den Mund und schlichen uns ins Schlafzimmer.
Jede ruhige Minute ist so wertvoll, denke ich und schaue Markus an, dessen Haare zerzaust sind. Er hat sich die Decke um die nackten Beine gewickelt.
»Salzhering oder Gummibärchen?«, fragt er und lässt die Tüte rascheln, die wir im Videoladen mit Süßigkeiten gefüllt haben.
»Hast du keine Colaflaschen mehr?«
»Alle«, murmelt er und grinst wie ein Wolf.
Ich strecke die Hand nach der Tüte aus, aber er hält sie so hoch, dass ich nicht herankomme.
Blitzschnell springe ich auf und reiße die Tüte an mich, ehe er reagieren kann. Ich durchsuche den klebrigen Inhalt und finde das, was ich will: eine mit knisterndem Zucker bedeckte Colaflasche.
»Ich wollte am Wochenende den Dachboden aufräumen, Stefans Sachen durchgehen. Ich dachte, ich könnte versuchen, mich von dem alten Schrott zu trennen.«
Markus zieht mich dichter an sich, gibt mir einen raschen Kuss, und ich spüre die Wärme seines Körpers, lasse mich davon umfangen.
»Du brauchst nichts wegzuwerfen. Wir können das doch in den Schuppen stellen.«
Seine Stimme ist sanft, und er redet langsam, als habe er Angst, sich nicht richtig auszudrücken. Er weiß, dass Stefan ein brisantes Thema ist.
Vorsichtig schmiege ich mich an ihn, lehne die Wange an seine Schulter, küsse sein Ohrläppchen.
»Du brauchst nicht so vorsichtig zu sein«, flüstere ich. »Stefan ist so lange tot, und auch wenn es schrecklich war, habe ich doch jetzt losgelassen. Bin weitergegangen. Was wir haben …« Ich verstumme, weiß plötzlich nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Wie erklärt man jemandem das Gefühl, das Leben zurückerhalten zu haben? »Was wir haben, ist so stark«, sage ich. »Das andere liegt jetzt hinter mir. Ich will diese Kartons los sein. Wirklich. Sie sollen nicht als Erinnerungen an ihn im Schuppen liegen. Aber ich muss alle Papiere durchsehen, damit ich nichts Wichtiges wegwerfe.«
Markus nickt, sagt nichts. Ich spüre, wie seine Kiefer sich an meiner Wange bewegen, als er die Lakritzkugel bearbeitet.
Der Mann, den ich liebe, ist Markus. An einem anderen Ort, jenseits von Raum und Zeit, dort, wo ich mir vorstelle, dass Dunkelheit und Schweigen sich ausbreiten, ruht Stefan. Wir waren frischverheiratet, als wir in dieses Haus hier gezogen sind. Verliebt, auf eine nicht ganz gesunde Weise voneinander besessen. Unsere Zweisamkeit war so eng, manchmal fast erstickend. Wir stritten, liebten und renovierten einen ganzen Sommer lang. Badeten nackt in der Bucht. Trugen barfuß Bretter über die Felsen. Jagten einander durch den Tannenwald, dass die Nadeln an unseren Fußsohlen klebten.
Nie ist man so stark wie dann, wenn man liebt, denke ich.
Weitere Kostenlose Bücher