Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Trommelfell in Fetzen zu zerreißen.
Der Mann im Parka beugte sich über den Körper im Schnee und sagte etwas.
Dann war er verschwunden, und abermals war alles still.
Sie blinzelte einige Male, schaute den Mann im Schnee an, sah genau in seine Augen. Die waren so leer und schwarz wie die Februarnacht. Langsam begriff sie, dass sie ihren Verfolger ansah. Den Riesen. Den Hulk. Der jetzt nur noch ein ganz normaler Spießer in Anzug und Wintermantel war. Ein ganz normaler toter Spießer in Anzug und Wintermantel. Um seinen Leichnam wurde die Blutlache im Schnee immer größer. Sie dampfte ein wenig.
In der Hand hielt der Mann eine rote Plastiktüte mit dem Aufdruck »BR-Spielwaren«. Ein Hello Kitty -Malbuch war in den Schnee gefallen, und ein länglicher, blanker Gegenstand ragte aus der Tüte.
Es war kein Schwert. Es war kein Messer.
Es war ein großes buntes Plastiklineal.
Stockholm 2010 – fünf Jahre später
Die Küche ist groß. Sicher fünfundzwanzig Quadratmeter. So groß wie meine alte Studentenbude in Lappkärrsberget. Im Zimmer gibt es eine geräumige Kücheninsel mit einem riesigen Gasherd, einen Tisch aus Birkenholz mit Platz für mindestens acht Personen und einen großen alten Schrank, den angeblich Markus’ Urgroßvater gezimmert hat. Vor dem Fenster fällt der Schnee, und im offenen Kamin prasselt ein Feuer. Es ist idyllisch, fast unwirklich, und unter dem Tisch drücke ich Markus’ warme Hand.
Wir sind zu Besuch bei Göran und Eva, seinen Eltern, meinen Schwiegereltern. Hoch oben in Nordschweden, in der Nähe von Kalix. Wir wollen hier ein langes Wochenende verbringen, um Markus’ Geburtstag zu feiern und damit Göran und Eva ihr Enkelkind sehen können.
Vom Herd her duftet es nach Knoblauch und Kräutern, und Göran rührt ab und zu im Topf mit der Pilzsoße, damit die nicht anbrennt. Eva schenkt für sich und Markus Wein in überdimensionale Weingläser ein. Ich trinke Mineralwasser mit Zitrone. Erik sitzt neben mir und zeichnet auf einem Block.
»Das bist du, Mama.« Er zeigt auf einen Kreis mit lachendem Mund und Punkten als Augen. Krakelstriche stellen Arme und Beine dar. Ich streichele seine seidenweichen hellen Haare und spüre seinen kleinen Körper an meinem.
»Wie schön. Das bin ich?«
Ich fühle, wie die Wärme sich in meinem Körper verbreitet. Mein Sohn sieht mich als frohe Mama. Als eine, die lacht. Er nimmt die Freude selbstverständlich hin, und das macht mich dankbar.
»Aber wo ist denn Papa?« Markus macht ein besorgtes Gesicht, und Erik kichert.
»Du darfst nicht dabei sein, Papa. Das ist Mama. Das ist Mama, nur Mama.« Er schaut mich an und lacht, und dabei sind alle seine kleinen, perfekten Zähne zu sehen. Dann nimmt er den Buntstift und zeichnet auf einem blauen Blatt einen weiteren Kreis.
»Papa, das bist du!« Er malt weiter Kreise, und jetzt sind auch Oma und Opa dabei.
»Und hier ist Ludde!«
Er zeigt auf einen kleinen Kringel, der offenbar den schwarzen Labrador zu meinen Füßen darstellen soll. Eva und Göran haben innegehalten und verfolgen mit großem Interesse die Bewegungen, die ihr Enkel mit dem Buntstift macht.
Ich habe mich nur selten irgendwo so willkommen gefühlt wie in dieser großen Küche in dem norrländischen Dorf. Ich sehe Markus an, dass er sich hier wohlfühlt. Sein Gesicht ist entspannt, und die feinen kleinen Runzeln um seine Augen haben sich geglättet. Hier, zu Hause bei seinen Eltern, findet er Platz zum Atmen und Wärme.
Lange habe ich die enge Beziehung zu seinen Eltern nicht verstanden, fühlte mich davon fast provoziert. Ich habe Markus kritisiert, behauptet, er habe sich nicht abgenabelt, aber bei unserem ersten Besuch hier oben in Kalix habe ich eingesehen, dass die Wärme zwischen ihm und seinen Eltern echt ist. Und Eva und Göran haben nie gezögert, mich in die Familie aufzunehmen. Obwohl ich zehn Jahre älter bin als Markus, gab es keine Zweifel und keine Einwände. Ich war Markus’ Freundin und dazu die Mutter ihres Enkelkindes. Vom ersten Moment an wurde ich in die Gemeinschaft einbezogen. Ein seltsames Gefühl. Meine eigene Familie ist im Vergleich dazu distanziert und abwesend. Meine Eltern freuen sich natürlich über Erik, aber er ist ihr sechstes Enkelkind, und der Reiz des Neuen ist verflogen. Außerdem haben sie mit ihrem eigenen Leben genug zu tun. Obwohl sie jetzt in Pension sind, sind sie fast immer unterwegs. Spielen Golf auf Mallorca, wandern in der Provence, segeln in der Ägäis oder basteln an
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