Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
war allein und noch immer zugedröhnt. Und er hatte ein Messer.
Sie wollte schneller gehen, aber ihre Beine gehorchten nicht, es war, wie durch Sirup zu stapfen. Sie merkte, wie ihre Frustration wuchs. Es spielte keine Rolle, wie sehr sie sich abmühte. Ihre Beine waren wie ungehorsame Holzstöcke, die immer wieder im Schnee stecken blieben. Jeder Schritt verlangte eine gewaltige Willensanstrengung. Die Angst verbreitete sich rasch in ihrem Körper, explodierte im Magen, pflanzte sich durch die Glieder fort und verwandelte sich endlich in ein dumpfes Pochen in Armen und Beinen.
Er hatte sie jetzt fast eingeholt.
Tausend Gedanken erfüllten ihr Bewusstsein. Bilder aus Nachrichtenreportagen über Überfallopfer, ermordete und vergewaltigte Frauen. Trauernde Angehörige. Eltern, die vor einem mit roten Rosen bedeckten Sarg weinten. Wenn ich sterbe, dachte sie, werde ich ihnen dann fehlen? Wird Robin mein Zimmer bekommen, meine Anlage, meinen Fernseher? Wird Marko eine andere finden, an der er sich festhalten kann?
Plötzlich waren ihre Beine keine starren Stöcke mehr. Doch sie schienen alle Lenkbarkeit und Stabilität eingebüßt zu haben, krümmten sich unter ihrem Gewicht nach vorn und nach hinten, als wären sie aus Gummi. Sie schaute nach unten. Statt ihrer mit Jeans bekleideten Beine ragte unter der Kapuzenjacke etwas hervor, das ungeheure Ähnlichkeit mit zwei riesigen rosa Himbeerbonbons hatte. Die Himbeerbonbons gaben unter ihrem Gewicht nach, machten es ihr fast unmöglich, das Gleichgewicht zu halten.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Mann von der Seite her näher kam. Und obwohl sie im Grunde wusste, dass sie halluzinierte, fuhr sie zusammen. Der Mann war unnatürlich groß, erinnerte an eine Gestalt aus einem Horrorfilm. Er war ein Riese, er war der Hulk, er war der Turnlehrer aus der Grundschule. Er war alle Ungeheuer, die sie je gesehen hatte, und er kam geradewegs auf sie zu. In der Hand hielt er etwas, das aussah wie ein riesiges Samuraischwert. Es funkelte im Licht der Straßenlaterne.
Sie wollte auf die Laterne am Ende des Parks zu rennen, aber die Himbeerbonbons gehorchten nicht, wackelten unter ihr. Tränen traten ihr in die Augen, ihre Ohren rauschten, ihr Bauch tat weh. Sie verspürte eine plötzliche Übelkeit und meinte, kotzen zu müssen, aber es kam nichts, als sie sich vorbeugte und würgte.
Als sie schon glaubte, der Mann habe sie eingeholt, sah sie eine weitere Gestalt, die sich aus den Schatten bei den Sträuchern löste. Ein Mann in Parka, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Eine Sekunde lang spielte sie mit dem Gedanken, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, um Hilfe zu rufen, aber als sie den Mund zu öffnen versuchte, passierte gar nichts. Stattdessen knickten die Himbeerbonbons unter ihr zusammen, und sie fiel hilflos auf die Parkbank. Sie stützte sich mit den Händen ab. Die glitten durch die dicke Schneeschicht, bis sie endlich auf den gefrorenen Boden stießen. Mit den letzten Kräften, die sie aufbringen konnte, kroch sie auf das Gestrüpp zu, um dort Schutz zu suchen.
Nur wenige Sekunden darauf hatte der Mann mit dem Schwert die Parkbank erreicht. Er schien um einiges ge schrumpft zu sein, und das Schwert – das jetzt nicht mehr aussah wie ein Schwert – ragte aus einer kleinen roten Tüte hervor, die er in der linken Hand trug. Dann hatte der Typ im Parka ihn eingeholt, legte ihm die Hand auf die Schulter, rief etwas. Sie krümmte sich im Schnee zusammen, versuchte sich in eine winzige unsichtbare Kugel zu verwandeln.
Wenn einer der Männer sie gesehen hatte, so schien doch keiner auf ihre Anwesenheit zu achten. Vielleicht wurde sie von den verschneiten Zweigen versteckt. Vielleicht waren die Männer zu sehr mit ihrer eigenen Auseinandersetzung beschäftigt. Vielleicht war sie wirklich unsichtbar für die beiden, wie eine echte Seifenblase, die in dieser Nacht durch den Park schwebte.
Sie registrierte Bruchstücke eines erregten Wortwechsels, dann versetzte der Mann aus dem Gebüsch dem Samurai mit einem schwarzen Gegenstand, den er in der Hand hielt, einen harten Schlag über die Wange. Der Samurai fiel langsam und lautlos um, wie ein im Wald gefällter Baum, und blieb nur wenige Meter von ihr entfernt liegen. Der Mann im Parka stieß ihn mit dem Fuß an, als suche er im Müll nach etwas, das er soeben verloren hatte.
Eine Sekunde darauf fiel der ohrenbetäubende Schuss. Die Kraft dieses Geräuschs war so ungeheuer, presste sie auf den Boden, drohte ihr
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