Bevor ich sterbe
überrascht, zieht ihre aber nicht weg.
Die Fensterscheiben sind so dunkel getönt, dass man die Straße nicht sehen kann. Als wir ankamen, hat es zu schneien angefangen; die Leute bei ihren Weihnachtseinkäufen waren dick eingemummelt gegen die Kälte. Hier drin strahlen die Heizkörper heiße Luft ab, und Konservenmusik spült über uns weg. Draußen könnte die Welt untergegangen sein, hier drin würden wir nichts davon merken.
Zoey sagt: »Wenn das hier vorbei ist und wieder nur wir beide übrig sind, nehmen wir uns noch mal deine Liste vor. Dann geht’s an Nummer sechs. Ruhm, oder? Neulich hab ich so eine Frau im Fernsehen gesehen. Die ist mit Krebs im Endstadium gerade in einem Triathlon angetreten. Das solltest du machen.«
»Die hat Brustkrebs.«
»Na und?«
»Das ist was anderes.«
»Laufen und Radfahren halten ihre Lebensgeister wach. Wie viel anders kann das schon sein? Sie lebt jetzt schon viel länger, als irgendwer je für möglich gehalten hätte, und ist richtig berühmt.«
»Laufen kann ich nicht ausstehen!«
Zoey schüttelt tadelnd den Kopf über mich, als machte ich es ihr extra schwer. »Was ist mit ›Big Brother‹? Eine wie dich hatten sie da noch nie.«
»Das fängt doch erst nächsten Sommer an.«
»Na und?«
»Und, denk doch mal nach!«
Genau da kommt die Schwesternhelferin aus einem Nebenzimmer auf uns zu. »Zoey Walker? Wir sind jetzt für Sie da.«
Zoey zerrt mich hoch. »Kann meine Freundin mit?«
»Tut mir leid, aber es ist besser, wenn sie draußen wartet. Heute führen wir nur ein Gespräch, aber keins von der Sorte, die man leicht in Gegenwart einer Freundin führt.«
Das hört sich sehr bestimmt an, und Zoey kann offenbar keinen Widerstand leisten. Sie reicht mir ihren Mantel, sagt: »Pass drauf auf, ja?«, und zieht mit der Schwester ab. Die Tür schließt sich hinter ihnen.
Ich fühle mich sehr massiv. Nicht klein, sondern groß und pochend und lebendig. Es ist so greifbar, zu sein und nicht zu sein. Ich bin hier. Bald nicht mehr. Zoeys Baby ist hier. Sein Puls schlägt, wie eine Uhr tickt. Bald nicht mehr. Und wenn Zoey aus dem Zimmer kommt, den Vertrag unterschrieben hat, wird sie verändert sein. Sie wird verstehen, was ich schon weiß – dass wir alle vom Tod umzingelt sind.
Und er schmeckt metallisch zwischen den Zähnen.
FÜNFUNDZWANZIG
W o fahren wir hin?
Dad nimmt eine Hand vom Lenkrad, um mein Knie zu tätscheln. »Alles zu seiner Zeit.«
»Wird es peinlich?«
»Das will ich nicht hoffen.«
»Werden wir einen Promi treffen?«
Er guckt erschreckt. »Hattest du das vor?«
»Nicht unbedingt.«
Wir fahren durch die Stadt, und er verrät mir nichts. Wir fahren an den Wohnsiedlungen vorbei auf die Umgehungsstraße, und ich rate nur noch wahllos drauflos. Ich bringe ihn gern zum Lachen. Das kommt bei ihm gar nicht so oft vor.
»Mondlandung?«
»Nein.«
»Talentwettbewerb?«
»Mit deiner Gesangsstimme?«
Ich rufe Zoey an, um zu sehen, ob sie mitraten möchte, aber die schiebt noch Panik wegen der Operation. »Ich muss einen mündigen Erwachsenen mitnehmen. Scheiße, wen frag ich bloß?«
»Ich komm mit.«
»Sie meinen einen richtigen Erwachsenen. Wie ein Elternteil, weißt du.«
»Sie können dich nicht zwingen, es deinen Eltern zu sagen.«
»Das ist alles so furchtbar«, sagt sie. »Ich hab gedacht, die
geben mir eine Tablette, und dann fällt es einfach raus. Warum brauch ich eine Operation? Es ist doch nicht größer als ein Pünktchen.«
Da irrt sie sich. Gestern Abend habe ich im Reader’s Digest Hausmedizinbuch »Schwangerschaft« nachgeschlagen. Ich wollte wissen, wie groß Babys in der siebzehnten Schwangerschaftswoche sind. Und habe rausgefunden, dass sie so lang sind wie eine Pusteblume. Dann las ich mich fest. Ich schlug Bienenstiche und Nesselsucht nach. So schön alltäglich, Familienkrankheiten – Ekzeme, Angina, Krupp.
»Bist du noch da?«, fragt sie.
»Jap.«
»Also ich leg jetzt auf. Gerade stößt mir Magensäure auf.«
Das ist eine Magenverstimmung. Sie muss ihren Dickdarm massieren und Milch trinken. Es geht vorbei. Wofür auch immer sie sich bei dem Baby entscheidet, alle ihre Symptome werden vorbeigehen. Aber das sage ich ihr nicht. Stattdessen drücke ich den roten Knopf an meinem Telefon und konzentriere mich auf das Stück Straße vor mir.
»Sie verhält sich sehr unvernünftig«, sagt Dad. »Je länger sie abwartet, desto schlimmer wird es für sie. Ein Schwangerschaftsabbruch ist was anderes als mal eben den
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