Bevor ich sterbe
zweihundertvierzig Gramm schwer. Wenn es jetzt auf die Welt käme, würde es in meine Hand passen. Sein Bauch wäre von rosa Adern durchzogen und durchsichtig. Wenn ich spräche, würde es mich hören.
Ich sage: »Ich hab dein Baby auf meine Liste gesetzt.« Das hätte ich wohl auch besser nicht laut gesagt. Es war auch wirklich nicht Absicht. Schon wieder starren mich alle an.
Dad greift über den Tisch zu mir rüber und berührt meine Hand. »Tessa«, sagt er.
Das kann ich nicht ausstehen. Ich schüttle ihn ab. »Ich will dabei sein.«
Zoey sagt: »Es ist noch fünf Monate hin, Tessa.«
»Na und? Das sind bloß hundertsechzig Tage. Aber wenn du mich nicht dabeihaben willst, kann ich draußen sitzen und vielleicht hinterher reinkommen. Ich will zu den ersten Menschen auf der Welt gehören, die sie halten.«
Sie steht auf, geht um den Tisch rum und nimmt mich in den Arm. Sie fühlt sich anders an. Ihr Bauch ist so fest geworden, und sie ist sehr warm.
»Tessa«, sagt sie. »Ich will dich dabeihaben.«
SIEBENUNDZWANZIG
D er Nachmittag geht schnell rum. Der Tisch ist abgeräumt, und der Fernseher läuft. Wir hören uns alle die Rede der Queen an, und dann führt Cal ein paar Zaubertricks vor.
Zoey verbringt den Nachmittag zwischen Sally und Mum auf dem Sofa damit, ihre zum Scheitern verurteilte Liebesgeschichte mit Scott bis ins kleinste Detail durchzukauen. Sie fragt die beiden sogar um Rat wegen der Geburt. »Sagt mal«, erkundigt sie sich, »tut es wirklich so doll weh, wie alle sagen?«
Dad ist in sein neues Buch vertieft, Bio-Ernährung . Ab und an liest er jedem, der sich dafür interessieren könnte, Statistiken über Chemikalien und Pestizide vor.
Adam redet hauptsächlich mit Cal. Er zeigt ihm, wie man die Keulen wirbelt, und einen neuen Münzentrick. Ich bin mir einfach nicht sicher bei ihm. Nicht, ob ich auf ihn stehe oder nicht, sondern ob er mich mag. Immer mal wieder wandert sein Blick durchs Zimmer zu mir rüber, aber er wendet ihn jedes Mal gleich wieder ab.
»Er will dich«, gibt Zoey mir irgendwann stumm zu verstehen. Aber wenn das wirklich stimmt, weiß ich nicht, wie ich an ihn rankomme.
Den Nachmittag über habe ich mich durch das Buch geblättert, das ich von Cal geschenkt bekam, Einhundert aberwitzige Methoden, seinem Schöpfer gegenüberzutreten . Es ist ziemlich komisch, aber es vermindert nicht mein Gefühl, dass in mir drin etwas schrumpft. Seit zwei Stunden sitze ich nun in diesem Sessel
in der Ecke und habe mich von den anderen abgesondert. Ich weiß, dass ich das mache und dass es nicht richtig ist, aber ich weiß nicht, wie ich mich sonst geben kann.
Um vier Uhr ist es dunkel, und Dad hat alle Lampen angeknipst. Er bringt Schälchen mit Süßigkeiten und Nüssen. Mum schlägt ein Kartenspiel vor. Ich schleiche mich in den Flur raus, während sie die Stühle anders aufstellen. Ich habe genug von festen Wänden und Bücherregalen, von Zentralheizung und Gesellschaftsspielen, nehme meine Jacke vom Haken und gehe in den Garten raus.
Die Kälte versetzt mir einen Schock. Sie fegt durch meine Lunge, verwandelt meinen Atem in Dunst. Ich setze meine Kapuze auf, ziehe sie mit der Schnur fest unter meinem Kinn zusammen und warte.
Ganz langsam, als lichtete sich Nebel, gewinnt der Garten mit allem, was darin ist, an Schärfe – der Stechpalmenstrauch, der den Schuppen piekst, ein Vogel auf einem Zaunpfahl, dessen Federn sich im Wind bauschen.
Drinnen teilen sie jetzt Karten aus und lassen Erdnüsse rumgehen, aber hier draußen glitzert jeder Grashalm, vom Frost überzogen. Hier draußen ist der Himmel mit Sternen übersät wie im Märchen. Selbst der Mond sieht tief beeindruckt aus.
Unterwegs zum Apfelbaum zermatsche ich Fallobst unter meinen Stiefelsohlen. Ich berühre die knorrige Rinde, versuche das zerschrammte Schieferfarbene unter meinen Fingerkuppen zu spüren. Ein paar vereinzelte feuchte Blätter hängen noch an den Zweigen. Eine Handvoll geschrumpelte Äpfel verwittert vor sich hin.
Cal sagt, dass menschliche Wesen aus der Nuklearasche toter Planeten bestehen. Er sagt, wenn ich sterbe, werde ich wieder zu Staub, zu glitzerndem Regen werden. Wenn das stimmt, dann will ich genau hier unter diesem Baum begraben sein. Seine Wurzeln werden in die Weichteile meines Körpers dringen und
mich aussaugen. Ich werde zu Apfelblüten umgeformt werden. Im Frühling werde ich wie Konfetti herabregnen und an den Schuhen von Mum, Dad und Cal kleben bleiben. Sie werden mich in ihren
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