Bevor ich verbrenne
Teresa zwei Briefe aus dem Gefängnis erhalten. Zusätzlich hatte sie ihre täglichen Gedanken in einem Kalender festgehalten. Nach Teresas Tod hatte Karin alles in einer Schublade gefunden. Sie gab mir die Briefe, und ich las mit den gleichen gemischten Gefühlen wie bei Alfred. Einem der Briefe entnahm ich, dass sie ihm eine Gitarre geschenkt hatte. Allerdings ging nicht daraus hervor, ob sie die Gitarre mit der Post geschickt oder sie ihm im Gerichtsgebäude von Kristiansand persönlich überreicht hatte. Jedenfalls schrieb er ihr und bedankte sich, dass er als Kind bei ihr Klavierspielen gelernt hatte. Das Gitarrenspiel hätte er sich selbst beigebracht, berichtete er. Und dass die Musik ihm immer wichtiger würde.
Er war also zu ihr gekommen, um ein Instrument zu lernen. Er auch.
Der andere Brief las sich ziemlich unzusammenhängend, irgendetwas mit dem Herrgott und mehreren bekannten Personen aus der Gemeinde. Schwierig wiederzugeben. Alles sehr sprunghaft.
Zusammen mit dem Brief an Alfred gab es also drei Briefe. Dazu eine ganze Kiste voller Kalender von Teresa. Jedes Jahr der gleiche Kalende r – der kleine grüne, den der norwegische Bauernverband verschickte. Die Kalender waren voller kurzer Notizen über das Wetter und die Schüler, die zu ihr kamen. Ich überflog sie rasch. Soweit ich sehen konnte, wurde ich nicht erwähnt. Über Dag stand freilich ziemlich viel in den Kalendern, vor allem in der Zeit der Brände und kurz danach. Die letzten Seiten mit der Überschrift Eigene Notizen hatte sie mit ihrer leicht schrägen Handschrift beschrieben. Diese letzten Seiten enthielten einen Briefentwurf, aber ich glaube, sie hat ihn nie auf gewöhnliches Briefpapier übertragen und abgeschickt. Doch wenn ich mich nicht sehr irre, lautet die Frage: An wen, wenn nicht an ihn, sollte sie sonst geschrieben haben?
Darüber hinaus gab es vermutlich weitaus mehr Briefe. Soweit ich weiß, strömten sie in der ersten Zeit geradezu aus dem Gefängnis. Auch während der Gerichtsverhandlung wurden Briefe erwähnt, die Rede war von einer enormen Korrespondenz . Geschrieben wurden sie in den Wochen nach seiner Verhaftung, als Dag allein war und der Traum von dem Hund auftauchte. Und er zu schreiben begann. Als würde sich etwas den Weg freisprengen, als müsste etwas heraus. Alle Briefe trugen den Stempel: Gerichtsgebäude, Postfac h 1D.
Er schrieb an all seine Opfer, aber ich weiß nicht, wie viele antworteten. Ich habe versucht, es herauszufinden: Wer hat einen Brief bekommen, was stand darin, wurde er beantwortet? Es erwies sich als unmöglich. In der Regel bekam ich immer dieselbe Antwort: Ich kann mich nicht erinnern. Hab ich weggeworfen. Der war doch verrückt.
III
Sie hatte sich gefreut, ihn wiederzusehen. Den ganzen Herbst über hatte er ihnen geschrieben. Jede Woche freute sie sich auf die kleinen braunen Umschläge mit dem Poststempel ›Porsanger Garnison‹, bei dem der Reichslöwe in der Mitte saß. Anfangs waren es lange, ausführliche Briefe, die Ingemann laut am Küchentisch vorlas. Später, wenn sie allein war, las sie die Briefe noch einmal für sich, dann hatte sie das Gefühl, als käme ihr Dag noch näher. Er erzählte vom Leben in der Kaserne, über nette, eifrige und freundliche Kameraden, die aus dem ganzen Land kamen; er schrieb über das eintönige Essen, das sich nicht messen konnte mit dem, was Alma zu Hause kochte, und er schrieb über Manöver direkt an der russischen Grenze. Sie versuchte, sich all dies vorzustellen, diese fremde, eiskalte Welt, und Dag mitten darin.
Im Dezember erhielten sie einen Brief, in dem er mitteilte, dass er Weihnachten nicht dienstfrei bekäme. Jemand musste in der Kaserne bleiben, sie hatten gelost, und einer derjenigen, die es getroffen hatte, war er. Sie hatten es mit Fassung getragen. Am Heiligen Abend hatte er am Vormittag angerufen. Es wurde ein kurzes Gespräch, die Münzen rasselten nur so durch den Automaten. Er sprach zunächst mit Ingemann, dann ein paar Worte mit Alma. Sie meinte, etwas Fremdes in seiner Stimme zu hören, doch das war nicht weiter verwunderlich, schließlich war er über zweitausend Kilometer entfernt.
Im neuen Jahr dauerte es lange, bis ein Brief eintraf. Im Februar kam nur eine Postkarte. Sie zeigte einen Wachturm an der Grenze zwischen Norwegen und der Sowjetunion. Auf der Rückseite stand: Der Soldat im Turm bin ich. Im ersten Moment freuten sie sich. Na so etwas! Wahrscheinlich hatten die wenigsten Eltern einen Sohn, dessen
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