Bevor ich verbrenne
jemandem erzählt, erst im Laufe der Gerichtsverhandlung wurde es bekannt. Dag erzählte, dass er im Gefängnis angefangen hatte, davon zu träumen. Dass er in der Nacht plötzlich aufwachte, ohne zu wissen, wo er war; dass er regungslos unter der Decke lag, eiskalt vor Schreck, und das Gewicht des Hundes an den Füßen spürte.
Er war ein solches Wunschkind. Und als er endlich zur Welt kam, wurde er innig geliebt. Er wuchs heran und alle mochten ihn. Aber er schlug den Blick nieder, wenn er mit den Leuten redete.
Ingemann brachte ihm bei, wie man mit einem Gewehr umging. Erst mit einem Kleinkaliber, dann mit einer Büchse. Die beiden stellten eine Schießscheibe au f – eine weiße Scheibe mit einem kleineren schwarzen Kreis in der Mitt e –, legten sich nebeneinander auf leere Säcke, zielten und drückten ab. Sobald die Schüsse verklungen waren, standen sie auf und gingen ohne Eile zur Scheibe, um sie sich anzusehen. Es zeigte sich, dass Dag talentiert war. Er schoss seine Serien immer dichter innerhalb des schwarzen Rings. Der Vater nahm ihn mit zu Schützentreffen in Finsland und anderen Gemeinden. Sie legten das Gewehr auf den Rücksitz und brachen auf, und Alma stand mit dem Abendessen in der Küche bereit, sobald sie nach Hause kamen. Dag gewann Pokale, normalerweise gewann er. Wenn er sich ganz selten einmal geschlagen geben musste, gab es stets eine Entschuldigung: Entweder hatte der Wind plötzlich gedreht, oder die Kimme war falsch eingestellt, oder die Unterlage war zu glatt, oder er war zu müde, oder er hatte zu viel oder zu wenig gegessen, bevor sie losgefahren waren. Immer fand sich eine Erklärung, es sei denn, er gewan n – dann bedurfte es keiner Erklärung, das war der Normalfall. Er war der Beste. Er brachte die Pokale mit nach Hause und stellte sie auf den Wohnzimmertisch. Dort blieben sie ein, zwei Tage stehen, damit Ingemann und Alma sie richtig bewundern konnten, dann wurden sie ins Wohnzimmerregal über dem Klavier gestellt. Alle vierzehn Tage nahm Alma die Pokale herunter und stellte sie auf den Fußboden, dann wischte sie Staub auf dem Regal und stellte sie wieder zurück. Für alle drei waren die Pokale ein Triumph.
Dieses Gefühl hatten sie jedenfalls: ein Triumph für alle drei.
Jeden Tag fuhr Dag mit dem Rad zu dem geschlossenen Laden an der Kreuzung und von dort aus weiter zur Schule in Lauvslandsmoen. Dort gefiel es ihm. Die Schule war wie ein Spiel. In welchem Fach war er eigentlich am besten? Norwegisch? Geschichte? Mathematik? Er war überall gleich gut. Er war der Klassenbeste. Niemand konnte sich mit ihm vergleichen, beinahe so wie beim Schießen. Er stand ganz oben, und dort oben war er allein. Und allein sein wollte er. Er fing an, es zu mögen. Es wurde zu einer Notwendigkeit. Niemand sollte an ihm vorbeikommen, und daher begann er, mit sich selbst zu wetteifern. Und doch kam es vor, dass er Fehler machte. Dass eine Prüfung nicht so gut ausging, wie er es sich vorgestellt hatte. Dass sich kleine Flüchtigkeitsfehler einschlichen, etwas größere Fehler, oder dass er tatsächlich einen groben Fehler beging. Dass die Dinge ihm einfach ein wenig zu schnell von der Hand gingen. Es konnte passieren, dass er ein ›Sehr gut‹ bekam, allerdings ein schwaches ›Sehr gut‹. Dann wurde er still, seine Laune verdüsterte sich, und er sah den Lehrer anklagend an; es handelte sich um Reinert Sløgedal, der schon vor dem Krieg Lehrer in der Gemeinde gewesen war. Dann saß Dag einfach nur lange da und blickte leer vor sich hin, und wenn jemand fragte, wie die Prüfung gelaufen war, dann konnte man in seinen Augen etwas Unbegreifliches sehen, etwas Fremdes, etwas Starres, Unversöhnliches, Eiskaltes. Jeder spürte, dass er sich besser nicht nach dem Resultat hätte erkundigen sollen, also ließen sie ihn in Ruhe, bis das Fremde wieder verschwunden war; und er wurde nie wieder gefragt, denn alle wollten Dag doch so, wie sie ihn kannten.
In einem Winter ging er zum Pastor. Im Jahr 1971. Er kniete mit den anderen Kindern vor dem Altar, dann wurde für jeden einzelnen gebetet.
Dag wechselte 1973 aufs Gymnasium nach Kristiansand, auf die Katedralskole. Er musste früh aufstehen, um den Bus zu erreichen, der vor dem Bethaus in Brandsvoll hielt. Er mochte die Stadt, und doch war es immer wieder schön, nach Hause zu kommen. Im Winter ging er im Dunkeln los und kam nicht vor der Abenddämmerung nach Hause. Alma stand mit dem Abendessen bereit. Sie und Ingemann hatten auf ihn gewartet,
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