Bevor ich verbrenne
Kåres Grab gekümmert, bis es eingeebnet wurde. Das geschah irgendwann in den neunziger Jahren. Sie hatte ihr Einverständnis gegeben. Das war verständlich. Alle waren fort. Die ganze kleine Familie. Nichts war geblieben.
Ach, doch: Johannas Spinnrad.
Bevor ich ging, umarmte ich Aasta, ein paar kurze Sekunden standen wir in der Dunkelheit und hielten uns gegenseitig fest. Dann ging ich allein den kurzen Weg nach Hause. Es herrschte jetzt völlige Dunkelheit, und es war ziemlich kühl. Der erste Frost würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ich dachte an all die Male, an denen ich als Kind genau diesen Weg ging. Sobald ich Aasta und Sigurds Haus hinter mir ließ, war es bis zu den Briefkästen stockfinster. Es handelte sich um eine Strecke von gerade eben fünfhundert Metern, doch jedes Mal schlug mir das Herz bis zum Hals. Der Weg führte zuerst durch den Nadelwald in Vollan, dann öffnete sich der Wald. Als Kind sang ich mich immer durch den Wald, bis ich an den Bach kam, der unter dem Weg hindurchfloss und auf der anderen Seite eine Steinmauer hinabstürzte. Ich kam von einem Treffen der Kindergruppen Hoffnung oder Die Jüngeren nach Hause. Wir hatten von der schädlichen Wirkung des Alkohols gehört, doch hier und jetzt, allein in der Dunkelheit, vergaß ich vollkommen, dass man davon Bauchschmerzen bekommen und grün im Gesicht werden konnte, dass man von seiner ganzen Familie verlassen wurd e – genau hier hatte ich einfach nur eiskalte Angst und hoffte, dass mein Gesang die Erscheinungen davon abhielt, in der Dunkelheit plötzlich vor mir zu stehen. Ich sang und sang vor mich hin, es war eine selige Mischung aus Liedern des Kinderchors, Michael Jackson und Samantha Fox: Lobe den Herrn, den mächtigen König, Bad und Nothing’s Gonna Stop Me Now durcheinander. Wichtig war, dass ich sang. Dass es nie still wurde. Und dass ich bis zum Wasserfall durchhielt. Es gab sozusagen ein ›vor‹ und ›nach‹ dem Wasserfall. Sobald ich an ihm vorbei kam, war ich gerettet. Dieses Gefühl stellte sich auch an diesem Abend wieder ein, als ich allein durch die Dunkelheit lief und mir das Gespräch über Kåre und Johanna durch den Kopf ging. Es löste eine Erinnerung aus, es durfte nicht still werden, bis ich die unsichtbare Grenze passiert hatte. Vorbei, vorbei, einfach nur daran vorbeikommen, dann wäre ich gerettet.
3.
I
I n der Nacht zum 20 . Mai 1978 passierte es wieder. Ein Stall im Wald bei Hæråsen, ganz im Norden der Gemeinde, einige hundert Meter entfernt von den nächsten Einwohnern. Brand Nummer drei. Acht Tonnen Kunstdünger, eine alte zweirädrige Kutsche, eine Kalesche, acht bis zehn Reifen, zwei Schlitten, eine Jauchetonne, ein Stubbenroder, einige Dachziegel und Zaunpfähle.
Alles zusammen.
Das Flammenmeer war mehrere Kilometer weit zu sehen. Es wogte rot und orangefarben über den Himmel, und der Anblick ließ das Blut in den Adern erstarren.
Auch dieses Mal kam die Freiwillige Feuerwehr zu spät.
Das Löschwasser wurde auf die Bäume gerichtet, auf die Baumkronen der Kiefern, die von dem grellen Licht der Hitze erleuchtet wurden. Es knallte und knackte im Wald. Hin und wieder hörte es sich an, als würde etwas bersten. Etwas Großes wurde in Stücke gerissen, auf die Seite geworfen und stöhnte verletzt auf.
Seit dieser Nacht begriffen die Menschen, dass etwas ernsthaft Gefährliches vor sich ging.
Alle Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr hatten sich eingefunden. Die Autos standen in einer Reihe hinter dem Feuerwehrwagen, genau so hatten sie auch während der anderen Brände geparkt. Dag hielt den Schlauch, irgendwo hinter ihm dröhnten die Pumpen in der Dunkelheit, das Wasser schoss mit einer gewaltigen Kraft heraus. Er richtete es auf das Zentrum, auf die orangefarbenen, beinahe roten und beinahe reglosen Flammen. Das Feuer wütete wie ein verletzter Drache, als das Wasser auf die Flammen traf. Einen Moment wurden sie niedergeschlagen, doch dann sammelten sie frische Kraft und schlugen höher als zuvor. Nach einigen Minuten wurde die Hitze zu intensiv, und andere mussten den Schlauch übernehmen. Dag blieb in einiger Entfernung stehen, kühlte sich ab und sah zu. Er sah, wie die anderen umherliefen, er hörte die Rufe und Stimmen und das gleichmäßige Dröhnen der Wasserpumpen, und weit entfernt hörte er das Knallen und Knistern des Brandes. Er wartete auf Ingemann. Der Brandmeister war noch nicht eingetroffen, daher hatte Alfred das Kommando übernommen. Dag wurde unruhig.
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