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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaute Heivoll
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möglich gehalten hatte. Er lernte noch einmal zu laufen, er lernte, mit einem Bein Fahrrad zu fahren, er lernte sogar, Moped zu fahren. Nichts schien mehr unmöglich zu sein. Aasta erzählte, dass Kåre eine Weile bei ihr und ihrem Mann Sigurd wohnte, als er auf die weiterführende Schule in Lauvslandsmoen ging. Und wie alle anderen musste auch er irgendwie zur Schule kommen. Es dürfte wohl im Winter 1958 gewesen sein. Nachdem man ihm sein Bein abgenommen hatte, war es einfacher, hier zu wohnen als zu Hause in Vatneli. Von dort waren es über sieben Kilometer. Olav und Johanna hatten kein Auto, und Aastas Haus lag nur wenige hundert Meter von der Schule entfernt. Er schlief oben unterm Dach, erzählte sie, in der Kammer, die nach Westen hinausgeht. Sie hatten den Ofen angemacht, damit es im Zimmer gemütlich und warm wurde. Ihr Gesicht leuchtete auf, als all diese schon fast verschwundenen Erinnerungen wieder auftauchten. Sie entsann sich an Dinge, die sie längst vergessen glaubte, kleine Details und Unwesentliches, von denen sie nicht dachte, dass sie mich interessieren könnten. Ihre Augen blickten ins Leere, als liefe die Zeit vor fünfzig Jahren wie ein dünner, flimmernder Film irgendwo im Raum vor ihr ab. Sie hätte jedes Mal Angst gehabt, wenn er mit seinen Krücken die steile Treppe herunter kam, erzählte sie. Diese steile Treppe ohne Geländer, aber Kåre stelzte Stufe für Stufe herunter. Es ging jedes Mal gut, und mit der Zeit ging er mit seinen Krücken meisterhaft um. Sie erinnerte sich, wie er auf seinen Krücken humpelte und dabei sang. Abends kam er vom Dachboden, und auf dem Weg hinunter sang er lauthals. Ein Liebeslied, soweit sie sich erinnern konnte. Ja, ein Liebeslied. Sie wusste nicht mehr, welches, aber es war auf Englisch, sie erinnerte sich nur noch an das Wort darling.
    »Er war so fröhlich«, sagte sie, als wäre der Film vor ihr plötzlich unterbrochen worden.
    »Wie?«, wollte ich wissen.
    »Nun ja, so hell, so leichten Sinnes. Wie soll ich das ausdrücken? Es gibt kein anderes Wort dafür. So fröhlich, so hell.«
    Dann sprachen wir über Johanna. Sie war zu einer Frau geworden, die niemals lachte, die aber auch niemals weinte. Ihr folgte ein großer dunkler Schatten. Sogar die Vögel schienen zu verstummen, wenn sie erschien. Sieben Jahre nach Kåres Tod hatte Aasta sie gefragt, ob es nun leichter für sie sei, nach so langer Zeit.
    Die Antwort lautete: nein.
    Sie ging noch immer umher und sammelte die Teile ein.
    Johanna hätte so gern ein Familienfoto gehabt. Sie wünschte es sich, nachdem sie mit Olav allein zurückgeblieben war; und ihr größter Wunsch war, dass alle drei auf dem Foto zu sehen gewesen wären. Sie und Olav, und Kåre in der Mitte. Sie hatte Aasta und Sigurd um Hilfe gebeten. Es musste doch eine Möglichkeit geben? Es war in den Sechzigern. Die einzige Möglichkeit bestand darin, ihr altes Hochzeitsbild zu zerschneiden und Kåres Konfirmationsfoto zwischen die beiden Teile zu kleben. Danach hätte man ein neues Foto. Ein neues Bild käme zustande, wenn die beiden anderen zerstört würden. Aber das war unmöglich. Und da es nicht möglich war, schlug Johanna sich den Gedanken an das Familienfoto aus dem Kopf. Wenn Kåre nicht dabei sein konnte, war es ohnehin egal. Er in der Mitte oder gar nicht.
    Soweit Johannas Geschichte. Stets war sie ruhig. Alles, was sie tat, machte sie mit ruhigen Bewegungen. Sie besaß ein altes Spinnrad, mit dem sie für die Firma Husfliden spann. Das Garn lief ihr einfach nur so durch die Finger.
    Gegen End e – also nachdem sie auch ihr Haus verloren hatte n – wusch Aasta ihre Wäsche. Johanna schaffte es nicht mehr. Sie hatte ein neues Spinnrad, doch meist stand es still in der Ecke. In der letzten Zeit hatte sie einfach nur dagesessen und es angestarrt. Damal s – als sie die Wäsche wusc h – hatte Aasta all das Blut bemerkt. Einige Monate nach dem Brand. Es muss die Gebärmutter gewesen sein.
    Aasta begleitete mich zur Tür. Draußen war es dunkel, weißer Dunst hing über der Erde, und am Nordhimmel ließ sich der Lichtschein der in Scheinwerferlicht getauchten Kirche erahnen. Mich beschäftigte Kåres Geschichte, sein kurzes, aber offenbar sorgloses Leben. Ich fragte Aasta, ob sie jemanden kennen würde, der noch mehr über ihn erzählen könnte. Sie dachte nach. Schließlich schüttelte sie den Kopf. Sie war die Letzte.
    »Du weißt doch, alle sind tot.«
    Nach dem Tod von Olav und Johanna hatte sie sich jeden Sommer um

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