Bevor ich verbrenne
wobei sämtliche Reißverschlüsse der Jacke klimperten. Dann sah sie das Haus. Es stand ganz allein. Alle Fenster schwarz. Die Wände grau. Ein Stück weiter links stand die Scheune, auch sie grau und undeutlich in ihren Konturen, wie ein altes Schiff auf einem nebligen Meer. Sie wurde langsamer. Sie war es nicht gewohnt zu rennen, ihr Herz schmerzte, sie hatte den Geschmack von Eisen im Mund. Sie verließ den Weg, ging in Sløgedals Garten, blieb unter den alten Obstbäumen stehen und horchte. Nichts, nur das Herzrasen in ihrer Brust. Sie musste sich fast an einem Baum festhalten, bis ihr Atem sich wieder beruhigt hatte. Dann ging sie ein paar Schritte auf die Scheune z u – und dort entdeckte sie ihn. Der Abstand zwischen ihnen betrug nicht mehr als zehn, vielleicht fünfzehn Meter. Sie fuhr zusammen, obwohl sie doch tief in ihrem Inneren immer gewusst hatte, dass er hier war. Er stand merkwürdig vorgebeugt da, als würde er sich irgendetwas auf der Erde hinter der Scheunenwand genau ansehen. Dann stellte er den weißen Kanister im Gras ab. Sie hörte und sah alles ganz deutlich. Als hätte sie das Gehör eines Tiers. Wie in der ersten Zeit nach der Entbindung. Auch damals schienen alle Sinne plötzlich schärfer geworden zu sein. Mehrere Monate sah und hörte sie klarer als jemals in ihrem Leben. Nun passierte dasselbe. Sie öffnete den Mund halb, die Lippen bewegten sich, aber sie brachte keinen Laut heraus. Als würde sich irgendwo in der Brust eine große Blume öffnen. Sie presste die Kronblätter heraus, es tat so weh, dass sie schreien wollte, aber der Schrei kam nicht, die Lippen bewegten sich, aber noch immer entfuhr ihr kein Laut. Sie hörte, wie der Rest des Benzins im Kanister schwappte. Sie hörte das Rascheln der Streichholzschachtel. Sie hörte das Streichholz. Dann leuchtete sein Gesicht auf. Sie dachte an all die Male, die sie an seinem Bett gesessen hatte, wenn er schlief. Sie hatte es nie jemandem erzählt, aber sie hatte oft an seinem Bett gesessen und leise geweint. Sie konnte nichts dafür. Es passierte einfach. Er hatte so friedlich dagelegen. Sein Gesicht war ebenso offen wie verschlossen, er war ganz nah und doch nicht zu erreichen, und sie hatte dicke Tränen vergossen. Und wusste nicht, ob aus Glück oder aus Kummer. Wie durch ein Wunder hatten sie den kleinen Jungen empfangen. Sie hatten ihn eine Zeit lang gehabt. Doch dann sollten sie ihn verlieren. Es hatte so wehgetan. Sie hatte an nichts anderes denken können als an diesen Verlust. Eine Welle arbeitete sich aus dem Magen herauf, rollte heiß durch die Brust, spülte den Hals hinauf und blieb im Mund stecken. Sie hatte gelernt, vollkommen lautlos zu weinen. Sie stand vielleicht zehn Meter hinter ihm, doch in diesem Moment war sie außerstande zu weinen. Sie stand einfach nur da und sah, wie das Gesicht in die Dunkelheit hinüberglitt, als er die Hand senkte und das brennende Streichholz fortwarf. Die Flammen schlugen sofort hoch. Wie ein Riss in der Dunkelheit. Mit einem Schlag war es hell. Ein gelbes, ruheloses Licht, das alle Schatten erzittern ließ. Er trat ein paar wacklige Schritte zurück, während sie ganz ruhig stehenblieb. Die Flammen leckten bereits die Wand hinauf. Sie blickte auf die Bäume in der Nähe, der Tannenwald merkwürdig erleuchtet wie eine Ansammlung Alter und Weiser, stumm und dunkel in all ihrem Wissen; daneben eine Hängebirke, gleichsam schreckensstarr, die Obstbäume um sie herum mit zum Himmel erhobenen weißen Blüten. Wie gelähmt stand sie da und hatte gleichzeitig das Gefühl, als würde sie zu Boden sinken. Die Füße, die Knöchel versanken langsam in der Erde. Erst war es schmerzhaft, dann nur noch ein leichtes Unbehagen. Am Ende spürte sie nichts mehr. Die Schmerzen in der Brust verschwanden. Die Blume war noch dort, aber sie tat nicht mehr weh. Im Laufe von Sekunden stand die ganze Scheunenwand in Flammen. Es ging eine Art Wind von ihr aus, der sich eiskalt und gleichzeitig verzehrend heiß anfühlte. Der Wind riss die Flammen mit sich, heizte sie an, ließ sie nicht mehr in Ruhe. Sie spürte den Wind auf ihrem Gesicht, an den Wangen, auf der Stirn.
Dann drehte er sich um.
Als hätte auch er die ganze Zeit gewusst, dass sie da war. Dass sie zusammen hierhergegangen waren. Dass sie hinter ihm in dem dunklen Garten gestanden hatte. Dass sie an seinem Bett gesessen und geweint hatte. Er hatte es die ganze Zeit gewusst. Zwei, vielleicht drei Sekunden sahen sie sich an. Er unternahm nichts, er
Weitere Kostenlose Bücher