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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaute Heivoll
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Taste. Nichts. Ich zog einen kleinen Hebel, auf dem Viola dolce stand. Ein dünnes Geräusch war zu hören, das sofort wieder verschwand, als hätte man es aus einem Spalt gelassen. Ich probierte das Register, auf dem Vox celeste stand. Es blieb stumm. Ich dachte an Teresa und versuchte mir etwas von dem, was ich bei ihr gelernt hatte, in Erinnerung zu rufen, aber in diesem Moment schien es sehr lange her zu sein. Ich erinnerte mich nur, dass ihre Finger hin und wieder nach meinem Zeigefinger und Mittelfinger griffen und sie auf die richtigen Tasten setzten. Genau hier hatte sie gesessen und gespielt, als Vater getauft wurde, bei der Konfirmation, als Kåre gleich nach Holme als einer der Ersten hereinkam, und auch, als sie wieder aus der Kirche hinausgingen, um ein langes Leben zu führen. Und genau hier hatte sie gesessen, als ich zwanzig Jahre später, am 4 . Juni 1978, getauft wurde und die Gemeinde brannte. Ich versuchte das Register Vox humana . Ein leiser, zittriger Ton ertönte, der aber anschwoll und laut und mächtig wurde, wenn ich nur lange genug aufs Pedal trat.
    Schließlich ging ich die Treppe hinunter und lief wieder den Mittelgang ab. Meine Schritte waren nicht zu hören. Ich ging zum Altar und setzte mich auf die vorderste Bank, auf die linke Seite, dort hatte ich auch bei Vaters Begräbnis gesessen. Ich schloss die Augen, und nach einer Weile meinte ich Geräusche von Menschen in den Bänken hinter mir zu hören. Ich hörte, wie sie hereinkamen, wie sie über den weichen Teppich gingen, die kleinen knarrenden Türchen zu den Bankreihen öffneten und sich vorsichtig setzten, in den Gesangbüchern blätterten und aufblickten. Ich saß dort und hörte, wie die ganze Kirche sich langsam füllte. Ich dachte an den Abend in Mantua, an dem sie alle erschienen waren, um mich zu hören. Nun waren sie hier, ich wusste, dass sie es waren, sie versuchten, leise zu sein, aber ich hörte sie trotzdem. Ich saß ganz vorn, vollkommen regungslos, und sie saßen regungslos hinter mir. Ich wartete einige Minuten. Es war gut, so dazusitzen und nur zu warten, auf nichts zu warten, und ich hatte das Gefühl, die Leute hinter mir dachten dasselbe. Ich ließ noch einige Sekunden vergehen. Drei. Zwei. Eins. Dann drehte ich mich um.

II
    Ich kam im Morgengrauen zu mir. Die Menschen waren bereits auf den Beinen, einige standen schon mit ihren Einkaufstüten vor den Ausgängen bereit, und als ich in das kräftige milchige Licht blinzelte, sah ich, dass die Fähre am Kai von Hirtshals anlegte. Ich blickte auf die Hafenanlage mit den rostigen Fischkuttern, die wie eingefroren im Wasser lagen, und ich sah einen einsamen Gabelstapler die Lagerhäuser entlangfahren, dessen Gabeln unnatürlich hoch in die Luft ragten. Ich versuchte, von der Bank aufzustehen, auf der ich geschlafen hatte, aber ich hatte unglaubliche Kopfschmerzen. Daher blieb ich liegen, bis der letzte Passagier durch die Tür verschwand und ich allein auf dem Flur war. Langsam kam ich auf die Beine und folgte den weichen Treppen bis zum Autodeck. Ich setzte mich in Vaters eiskalten Wagen, und als ich die Tür schloss, den Sicherheitsgurt anlegte und ins Licht fuhr, erinnerte ich mich Stück für Stück an alles, was vorgefallen war. Den Blutgeschmack im Mund nahm ich allerdings erst wahr, als mich das schmutzige Morgenlicht traf. Ich warf einen Blick in den Spiegel und sah das geronnene Blut auf den Lippen und am Kinn. Die Zunge tat weh und war geschwollen, die Mundhöhle voller kleiner Risse und Schnitte. Ich hatte das Gefühl, nicht sprechen zu können, aber das war nicht weiter schlimm, denn ich hatte ohnehin nicht vor, mit jemandem zu reden. Ich fuhr den Kai entlang und bog schließlich rechts ab, in eine Straße, die Havnegade hieß. Ihr folgte ich ein Stück, bevor ich links abbog und durch eine Straße fuhr, die mit schweren Netzen überspannt war. Nach einer Weile fand ich einen Parkplatz nicht weit vom Meer und nicht weit vom Hirtshals Kro. Lange blieb ich im Auto sitzen und spürte das Pochen meines Kopfes in den Händen. Ich versuchte, die vergangenen zwölf Stunden zu rekonstruieren: Ich hatte meinen Vater im Pflegeheim in Nodeland verlassen, war an Bord der Fähre gefahren und schließlich auf die Reling geklettert. Ich hatte mich über die kochende See unter mir gebeugt. Von diesem Moment an, bis ich auf der Bank im Korridor erwachte, erinnere ich mich an nichts. Ich habe keine Ahnung, was geschehen ist. Ob jemand mich dort draußen in der Dunkelheit

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