Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
werden und ihre Mutter hätte recht damit gehabt, dass es nicht gut war, all das wieder hervorzukramen. Hätte Thor ihr doch nur gleich erzählt, worauf er hinauswollte, anstatt sie hinters Licht zu führen.
Linnea suchte nach Kerzen. Die Wohnung in der Knabrostræde war kalt und wirkte weiterhin ziemlich unbewohnt. Aber am heutigen Abend bestätigte sich einmal mehr, dass sie einen Ort für sich allein brauchte – egal wie unpersönlich er aussah. In mehreren Zimmern standen noch immer die besagten Umzugskartons, und ein Teil davon gehörte nicht einmal ihr. Es war der Nachlass ihres Vaters, den durchzusehen sie sich bisher nicht hatte aufraffen können. Jetzt machte sie die Heizung im Wohnzimmer an, suchte Rhonda Harris auf ihrem iPod und stellte ein paar flackernde Kerzen in die drei Fenster, die zur Straße hinausgingen. Nachdem sie eine halbe Stunde lang Dinge von einem Zimmer ins nächste geräumt hatte, war sie zufrieden. Rotwein, Zigaretten und Musik waren reichlich vorhanden – und Linnea war bereit für die bevorstehende Nacht, die vermutlich lang werden würde. Sie wusste nicht, was sie zu finden glaubte, aber sie war sich sicher, dass es ein wichtiger und notwendiger Schritt war. Der Gedanke war ihr bereits gekommen, als sie mit ihrem Mini im Cæciliavej losfuhr, und auf der Fahrt in die Stadt hatte sie ihn weiterentwickelt. Jetzt war es an der Zeit – nach zwei Jahren, in denen sie mit Scheuklappen durchs Leben gegangen war, musste sie sich damit konfrontieren. Sie leerte ihr Rotweinglas und öffnete den ersten Karton.
»Na dann, Papa, lass uns mal sehen, welche Leichen du so im Keller hast.«
Die Kartons waren zu Linnea geschickt worden, nachdem man den Nachlass des Vaters geordnet hatte. Die Mutter hatte auf Anraten des Notars darauf bestanden, das Erbe sofort aufzuteilen, so dass Linnea genügend Geld bekommen hatte, um sich eine Zeitlang keine Sorgen mehr über ihre Finanzen machen zu müssen. Und dazu ebenjene acht Kartons, mit denen die Mutter ebenfalls nichts zu tun haben wollte. Sie waren ohne Vorwarnung und ohne jede weitere Erklärung mit UPS aus Frankreich angeliefert worden.
»Du bist seine Tochter. Es ist deine Aufgabe, zu bestimmen, was von ihm bleiben soll.«
Linnea hatte über die Formulierung der Mutter gestutzt, als diese bei ihr angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, was von ihr erwartet wurde. Andererseits war sie es bereits gewohnt, dass nicht alles, was die Mutter sagte, Sinn ergab.
»Aber Mama, ihr wart ein Menschenalter verheiratet. Wenn ihn jemand kennt, dann doch wohl du.«
»Glaubst du das wirklich?«
Das angestrengte Lachen der Mutter hatte damals einen bitteren Beiklang gehabt.
»Vielleicht wird es Zeit, dass du deinen Vater wirklich kennenlernst.«
Linnea, die damals noch nicht mal ihre eigenen Umzugskisten aus San Francisco ausgepackt hatte, verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich mit dem Erbe ihres Vaters auseinanderzusetzen, aber die Mutter ließ sich nicht beirren. Deshalb standen die Kartons nun schon lange in Linneas hinterstem Zimmer, wie ein trauriges Monument für den verstorbenen Hans Peter Kirkegaard: einen Mann, den sie wohl nie richtig gekannt hatte.
*
La Belle, Helgolandsgade 21 , »der beste Lapdance der Stadt« und ein doppelter Whisky mit viel zu viel Wasser. Lotus Bar, Gammel Kongevej 17 , »exklusive VIP -Rooms« und ein Wodka auf Eis. Und jetzt: Dollhouse, Colbjørnsgade 8 , »Kopenhagens ältester Gentlemanclub« und noch ein doppelter Whisky. Und noch einer.
»Kommst du mal mit?«
Thor nickte einem schwarzen Mädchen an der Bar zu. Sie hatte einen beeindruckend großen Hintern und Brüste in derselben Liga. Allmählich fühlte Thor sich wieder wohl in seiner Haut. Das nervöse Zittern hatte sich in Energie umgewandelt, nach dem Zorn und der Ohnmacht, die der vollkommen unsinnige Streit mit Linnea in ihm ausgelöst hatte. Jedenfalls ging es ihm besser, seit er sich ins Auto gesetzt hatte und losgefahren war, um wenigstens irgendetwas Konstruktives zu unternehmen.
»Champagner?«
»Für fünfhundert Kronen die Flasche, was? Nein, nein, gib mir lieber eine Flasche Bier.«
Die junge Dame sah ein bisschen enttäuscht aus. Sie erzählte, dass sie Chantal hieße, und hatte bereits seine Hand genommen und auf ihren breiten Schenkel gelegt, der nur notdürftig von einem kurzen Lackrock bedeckt wurde. Die Einrichtung bestand aus schweren Teppichen, kleinen Tischen und roten, lederbezogenen Sofas, die bei Tageslicht sicher
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