Vortrag ausholte und ihr erklärte, wie sehr die Mutter auf fremde Hilfe angewiesen war, hörte sie schon nicht mehr zu. Ihre Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem gefesselt.
In ihrem Posteingang war eine neue Mail eingetroffen. Die erste Zeile war sichtbar, ohne dass sie die Mail öffnen musste. »An der Ecke zur Großen Theaterstraße um 13 . 15 Uhr«, stand dort. Und der Absender war
[email protected].
27
A bel Cathrinesgade, März 1999 , an einem Nachmittag. Ein unauffälliger Lieferwagen biegt langsam von der Istedgade ein und nimmt Kurs auf Kriminalkommissar Carsten Greive, der in Zivil ein Gebäude auf der anderen Seite der Straße beobachtet. Es ist die Tarnwohnung eines dreiundvierzigjährigen ghanaischen Heroinlieferanten, der sich Zugang zum Drogenmarkt von Vesterbro erkämpfen will. Der Lieferwagen beschleunigt. In dem offenen Seitenfenster taucht eine Hand auf, die – wie die späteren ballistischen Untersuchungen ergeben – eine jugoslawische Zastava-Pistole hält. Greive bemerkt das Auto. Er will davonsprinten, doch im selben Moment ertönen in rascher Folge drei Schüsse. Er sackt auf dem Bürgersteig zusammen. Mit quietschenden Reifen rast der Lieferwagen davon. Thor stürzt aus dem Kiosk nebenan. Zu spät. Drei Tage darauf stirbt Greive im Rigshospital, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben.
Und so wurde der unfähigste Mitarbeiter der Kopenhagener Polizei, der damals kurz vor seiner Entlassung stand, von einem Tag auf den anderen zu einem heldenhaften Kollegen, der sein Leben im Dienst geopfert hatte. Und der Einzige, der wusste, wie es so weit hatte kommen können, war Hauptkommissar Thor M. Dinesen. Der natürlich seine Klappe hielt.
»Carsten hat immer gesagt, dass aus dir noch mal was werden würde. Und damit hatte er recht, nicht wahr?«
Kamma Greive zupfte ihr Paschminatuch zurecht und schenkte Portwein nach.
»Ich habe alles von ihm gelernt«, presste Thor hervor.
Er hatte keinen Sinn für Religiosität. Er verstand einfach nicht, warum manche Menschen ein so großes Bedürfnis nach religiösen und spirituellen Vorstellungen hatten. Vielleicht lag es daran, dass er in einer Kommune aufgewachsen war, wo Chakra, Klassenkampf, Marx und Mithras-Mythos zu einer grauen Masse zusammengerührt worden waren. Aber mea culpa, so weit konnte er dem katholischen Schuldbekenntnis noch folgen. Mea maxima culpa – er würde hier nicht sitzen, hätte er nicht eine große Sünde begangen. Widerstrebend hob er sein Glas, und Kamma Greive trank ihren Portwein in einem Zug. Endlich blieb Thor für eine Sekunde von ihrem ständigen Gerede darüber verschont, was für eine Bereicherung ihr verstorbener Mann für die Polizei gewesen war. Und er musste hier in diesem geschmacklos eingerichteten Haus im Hulgårdsvej sitzen und ihr zustimmen, wie schon so viele Male zuvor. Es war seine ganz persönliche Buße, da der Tod von Carsten Greive einzig und allein Thors jugendlichem Eifer geschuldet war. Er hatte den damaligen Fall als einen schnellen Weg angesehen, um bei der Kriminalpolizei Karriere zu machen. Thor hatte auf jeden Informanten, den er kannte, Druck ausgeübt, bis er eines Tages zu weit ging und sein älterer, fauler und korrupter Kollege den Preis dafür hatte zahlen müssen. Was aber glücklicherweise niemand wusste.
»Vielleicht sollten wir über eine neue Regelung sprechen«, meinte Kamma Greive jetzt.
Thor starrte sie an, doch im selben Moment klingelte sein Handy, und er sprang eifrig auf, um den Anruf anzunehmen.
»Du hast mich gerade gerettet.«
»Wie meinst du das?«, fragte Linnea. »Irgendwie klingst du gerade merkwürdig.«
Thor sah zu der Polizistenwitwe hinüber und flüchtete vor ihrem vorwurfsvollen Blick in ein anderes Zimmer, damit er ungestört reden konnte.
»Eigentlich rufe ich nur an, um dir zu sagen, dass ich gerade im Eurocity sitze«, fuhr Linnea fort.
»Ist etwas mit deiner Mutter?«
Linnea zögerte.
»Ich bin auf dem Weg nach Hamburg«, sagte sie dann. »Eigentlich habe ich vor, schon heute Abend wieder zu Hause zu sein, die Zugfahrt dauert nur fünf Stunden. Ich wollte es dir nur sicherheitshalber erzählen. Sobald ich zurück bin, kann ich dir alles erklären. Aber ich muss erst mehr erfahren.«
Und dann verabschiedete sie sich ohne jede weitere Erläuterung. Thor blieb noch eine Weile stehen und starrte auf die Straße hinaus. Manchmal war ihm Linnea ein Rätsel, und sie schien nie zu begreifen, dass ihre geheimniskrämerische Art und