Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
jetzt ein Ende hätten. Und der zurückgehaltene Zorn der Mutter, dem sie offenbar erst jetzt, da die Demenz ihre Selbstkontrolle unterhöhlte, freien Lauf ließ. Merkwürdigerweise hatte Linnea kein Problem mit der Bestätigung, dass ihr Vater die Mutter tatsächlich betrogen hatte. Beinahe freute sie sich sogar, weil sein Leben reicher gewesen war, als sie geglaubt hatte. Sie war nur traurig, dass er ihr diese Seite von sich nie offenbart hatte.
»Du ähnelst ihm so sehr, dass es wehtut.«
Das war das Letzte, was Adèle zu ihr gesagt hatte, ehe sie die Treppe vom Glockenturm hinunterstieg. Und wieder hatte sie diesen merkwürdig ernsten, fast bedauernden Blick gehabt.
Linnea sah auf die Uhr. Noch immer lagen zwölf Minuten vor ihr, aber sie verspürte plötzlich einen großen Drang, nach draußen zu kommen. Warum sollten die anderen zwanzig Minuten brauchen, um von hier wegzukommen? In dieser Zeit war man doch schon fast wieder aus der Stadt hinausgefahren. Es sei denn, es ginge nicht darum, ausreichend Vorsprung zu gewinnen, sondern darum, dass sie in der Kirche blieb. Weil sie nie wieder nach Hause zurückkehren sollte?
Linnea brach der Schweiß aus. Sie stand auf. Jetzt zögerte sie nicht mehr. Sie rannte durch die Glastür und zu der schweren Außenpforte. Sie wollte keine Sekunde länger in diesem Gebäude bleiben.
»Verdammte Scheiße! Ist hier jemand?«
Sie rüttelte erneut an der Pforte. Hämmerte dagegen. Aber sie hatte es bereits begriffen. Die Tür war von außen verschlossen. Es gab kein Entkommen.
33
W er führt das Logbuch? Oh, Entschuldigung.«
Thor machte eine abwehrende Geste in Richtung des Kriminaltechnikers und deutete auf sein Handy.
»Tut mir leid«, sagte er dann ins Telefon. »Hier ist es gerade ziemlich hektisch.«
Er entfernte sich einige Schritte und stieg die rutschige Treppe zum Ufer hinab, um weitere Unterbrechungen zu vermeiden. Er musste nicht weit gehen, ehe er allein war, nur bis zu dem kleinen Pfad am Wasser. Von hier aus hatte er freie Sicht auf einen anderen Kriminaltechniker, der gerade seine Handschuhe wechselte, nachdem er eine Spur gesichert hatte. Er war in voller Montur: Einweghandschuhe, Schuhüberzieher, Mundschutz und blauer Einwegoverall. Er sah aus wie ein Schlumpf, der in einen Albtraum geraten war.
»Ich brauche dich«, erklärte Thor. »Wir sind nicht genügend Leute hier.«
Ewald seufzte ins Telefon.
»Ich dachte mir schon, dass du nicht einfach nur plaudern wolltest. Ein Mord?«
»Natürlich. Aber warte mal kurz. Erst mal versuche ich dir ein Foto zu schicken. Schau es dir bitte an.«
Er unterbrach das Gespräch, ging in sein MMS -Programm und suchte das Bild. Unter großen Mühen war es ihm gelungen, einen Arzt im Rigshospital zu überreden, es mit seinem Handy aufzunehmen und weiterzusenden. Es war ungewöhnlich, dass die Polizei selbst keine Bilder besaß. Doch erst jetzt, als das Opfer längst weggebracht worden war, dokumentierten die Fotografen des Kriminaltechnischen Centers jeden Quadratzentimeter des Tatorts und ordneten alle Funde chronologisch in die relevanten Sektoren ein, in die man den Ort aufgeteilt hatte. Alles, und sei es auch noch so unbedeutend, wurde in ein Logbuch eingetragen. Dasselbe galt für die Übersicht darüber, wann welche Kriminaltechniker oder Ermittler eingetroffen waren und wer welchen Bereich des Materials bearbeitete. Wenn Thor und seine Kollegen später rekonstruierten, was im Laufe des Abends vorgefallen war, ehe Chaos und Tod alles verändert hatten, war dieses Logbuch ihre Bibel.
»Eigentlich war es Bodilsens Fall«, sagte Thor, nachdem er das Foto geschickt hatte und Ewald erneut anrief. »Das muss ein Bild für die Götter gewesen sein: Richard Bodilsen in der Freistadt.«
»Du bist in Christiania?«
»Ja, entschuldige, ich bin gerade ein bisschen verwirrt. Hier wurde am Nachmittag oder Abend eine Frau ermordet. Bodilsen hatte Dienst und wurde herbeordert. Aber ausnahmsweise gab es einen aufmerksamen Kollegen bei der Spurensicherung, der den modus operandi wiedererkannte, als er zum Tatort kam. Lange hat schnell reagiert, und ich habe Bodilsen abgelöst. Er hat sicher mächtig gemurrt, als er wieder nach Hause geschickt wurde.«
»Das glaube ich allerdings auch. Aber heißt das, wir haben es mit derselben Tötungsmethode zu tun?«
»Ja, sie wurde mit dem Messer erstochen. In wilder Rage. Kommt dir das bekannt vor?«
Er hörte, wie Ewald am anderen Ende der Leitung zögerte.
»Sprichst du von der
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