Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
durchqueren? Weil die Schwarzen böse und primitiv sind und man sie kaum als Unseresgleichen betrachten kann? Nein, sie tun es, weil ihnen keine Alternative bleibt. Der Westen hat in den letzten zwanzig Jahren Raubfischerei an ihren Küsten betrieben, weil sie keine eigene Küstenwache haben, und genauso lange hat man dort auch industriellen Abfall verklappt. Gift, Schrott und sogar Atommüll haben die Menschen krank gemacht und ihre Chancen verringert, Fisch zu fangen, mit dem sie sich selbst versorgen können. Sie haben keine Wahl. Wir hier im Westen haben dafür gesorgt, dass sie keine Wahl haben. Und jetzt, wo sie aus Verzweiflung handeln – die einzige Möglichkeit, die einem bleibt, wenn man an die Wand gestellt wird –, schicken wir Kriegsschiffe, deren Waffensysteme so viel Geld kosten, dass man sämtliche Piraten Somalias mehrere Jahre lang davon ernähren könnte. Meinen Sie, diese Männer sollten sich einfach zusammennehmen und einen ordentlichen Beruf erlernen? Wir sind in Somalia. Hier gibt es keine Schulen und keine Arbeit. All das haben wir längst zerstört. Fragen Sie sie doch selbst. ›Der Hunger ist ein strenger Lehrmeister‹, sagen sie immer. ›Nichts kann einen hungrigen Mann zurückhalten.‹«
Gunnerus ließ sich wieder zurücksinken und zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, dass Thor sich diesen Vortrag selbst eingehandelt hatte, wenn er ihn dermaßen provozierte. Man konnte sich leicht vorstellen, dass Gunnerus ein Talent hatte, seine Mitarbeiter zu motivieren, die Leute zu begeistern und sie dazu zu bringen, sich zu empören und zu engagieren. Es musste ein starker Antrieb sein, mit ihm zu arbeiten, und Thor konnte Linneas Faszination für diesen Mann gut nachvollziehen. Und er wusste auch, dass sie rasend werden würde, wenn sie hörte, dass er ihn befragt hatte.
»Ich kann mich nicht ganz entscheiden, ob ich das zynisch finden soll oder heuchlerisch.«
»Weder noch.«
Gunnerus beugte sich nach vorn.
»Kintu war eine der ersten humanitären Organisationen, die in Mogadischu vor Ort waren. Aber es ist einfach zu gefährlich, sich dort aufzuhalten, und so lässt man das Hilfsprogramm normalerweise von Einheimischen durchführen, während die eigenen Mitarbeiter nur einige Male im Jahr anreisen. Aber Kintu ist dort, weil wir darauf beharren, dass Somalia eine der größten humanitären Herausforderungen der Welt ist. Es nützt nichts, den Schwanz einzuziehen. Und wenn ich sage, dass es uns schaden kann, wenn das herauskommt, dann stimmt es wirklich. Ich hoffe, Sie verstehen den Ernst dessen, was ich sage. Nur weil Linnea für Sie einsteht, habe ich überhaupt dieses Vertrauen zu Ihnen. Menschen, die etwas von alledem verstehen, also von humanitärer Hilfe und davon, wie man sich in Kriegsgebieten verhält und wie die Verhältnisse in den armen und verzweifelten Entwicklungsländern aussehen, wissen ganz genau, was vor sich geht. Es verstößt nicht gegen das Gesetz, und es ist eigentlich auch kein Geheimnis. Aber wir wissen alle miteinander genau, was passieren wird, wenn das an die Öffentlichkeit dringt. So etwas hören die Leute nicht gern.«
»So weit sind wir uns wohl einig.«
Gunnerus gestikulierte.
»Das Problem ist nur, dass es keine Alternative gibt. Die Fluggesellschaften, die Nothilfe in die Konfliktgebiete transportieren, sind oft dieselben, die den Konfliktparteien die Waffen anliefern. Oder Drogen schmuggeln. Oder Blutdiamanten oder was weiß ich. All das kann mit ein und demselben Flugzeug kommen. Es ist das klassische Problem der Entwicklungshilfe. Kann man sich in einem Konflikt tatsächlich neutral verhalten? Sollen wir allen helfen? Auch Verletzten und verfolgten Soldaten, die einen Völkermord begangen haben? Sollen wir einen Kriegsherrn belohnen, indem wir ihm Bestechungsgelder zahlen, um überhaupt Zugang zu den Notleidenden zu erhalten? Sollen wir verzweifelten Menschen sofort helfen, auch wenn unsere Intervention auf lange Sicht dazu führen könnte, dass der Konflikt eskaliert? Ich weiß darauf keine Antwort. Aber wir können nicht die Moralapostel spielen und uns aufs hohe Ross setzen und sagen, dass wir uns nicht einmischen, weil wir uns dann die Finger schmutzig machen würden. Ja, Kintu hat mit Fluggesellschaften zusammengearbeitet, die auch Waffen schmuggeln, aber es war eine Notsituation. Normalerweise haben wir unsere eigenen Flugzeuge oder wir informieren uns vorher, von wem wir uns besser fernhalten. Aber diese Firmen wechseln ständig
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