Bewahre meinen Traum
schluckte die sarkastische Bemerkung herunter, die ihr auf der Zunge lag. Natürlich erkannte er sie nicht. Schon gar nicht unter diesen Umständen und in totaler Finsternis. Sie nahm das Leinentuch, das unter ihrem Gürtel steckte. „Wir müssen dich ein wenig zurechtmachen, Kumpel. Streck die Hand aus.“
Sie nahm seine Hand zärtlich in ihre und versuchte, nicht die Wärme und Kraft zu spüren oder die Verzweiflung zu hören, die in seinen angestrengten Atemzügen lag. „Halt still, okay?“
„Sicher, wie du meinst.“
Vorsichtig tupfte sie das Blut an den Stellen ab, wo die Haut aufgerissen war. „Nicht die cleverste Aktion in der eigenen Hochzeitsnacht“, sagte sie.
„Das hier sollte nicht meine Hochzeitsnacht sein.“
„Vielleicht hättest du daran früher denken sollen.“ Sie säuberte seine Hand und wischte dann leicht den Gipsstaub von einem Ärmel.
„Früher als was? Mein Gott, sie taucht aus dem Nichts mit einem Baby auf. Was zum Teufel hätte ich denn sonst tun sollen?“
„Hast du mich das gerade wirklich gefragt? Bitte sag mir, dass ich mich verhört habe.“
Er fuhr sich mit der verletzten Hand durchs Haar. „Ich liebe sie. Ich muss sie lieben. Ich liebe sie beide.“ Er murmelte vor sich hin, als wolle er sich selber überzeugen, richtig gehandelt zu habe. „Sie sind jetzt mein Leben. Vielleicht nicht das Leben, das ich mir vorgestellt habe, aber was soll’s?“
„Fein. Ich sag dir, was du tun kannst.“ Sie nahm seinen Arm und zog Greg mit sich zur Treppe. „Du kannst aufhören, zu jammern. Du kannst ein Mann sein und zu dem Mädchen stehen, das du gerade geheiratet hast. Das ist genau das, was du tun kannst.“
Er blieb stocksteif stehen. Einen Moment lang dachte sie, er würde flüchten. Dann sah er sie an. Sein Gesicht war in der Dunkelheit unlesbar. „Nina.“ Er unterdrückte ein freudloses Lachen. „Ich weiß, wer du bist. Ich habe dich unter ‚leider keine Option mehr‘ gespeichert.“
Er ist betrunken, sagte sie sich. Er würde sich an diese Unterhaltung nicht erinnern. „Geh jetzt“, drängte sie. „Trink einen Kaffee. Geh zurück zu deiner Hochzeit.“
Sie stand in der Dunkelheit und sah zu, wie er auf die Party zurückkehrte. Auch wenn er zwei Stufen auf einmal nahm und entschlossen wirkte, wusste er vermutlich, dass der heutige Abend nicht der schwerste Abend seiner Ehe sein würde. Heute war nur der Anfang, und das war vermutlich der Grund, warum er ausgeflippt war. Er war gefangen. Sie hatte schon vorher Leute über so etwas sprechen hören. Mädchen, die schwanger wurden, um ihre Chance auf die Ehe zu steigern. War die Braut absichtlich schwanger geworden, um einen Bellamy zu heiraten? Nina wusste es nicht. Falls ja, würde ihr ein hartes Erwachen bevorstehen. Vielleicht nicht morgen, aber eines Tages.
Das geht dich nichts an, schalt Nina sich. Sie konnte nicht fassen, wie eigenartig es ihr ging, und doch konnte sie nicht genau sagen, woher es kam. Hier in der Dunkelheit dieses wunderschönen Herbstabends spürte sie eine plötzliche Übelkeit in sich aufsteigen. Der Geruch vom See und von den trocknenden Blättern vermischte sich auf ganz unangenehme Art mit den Abgasen vom Parkplatz.
Beinahe zu spät bemerkte Nina, dass sie sich übergeben musste. Sie schaute sich hektisch um. Die Toiletten waren drinnen, also rannte sie die Treppe hinauf und schaffte es gerade so. Die Damentoilette war leer, wofür sie sehr dankbar war, als sie ihren spärlichen Mageninhalt leerte.
Anstatt sich jedoch danach besser zu fühlen, wurde sie von einer neuen Übelkeitswelle gepackt. Sie tupfte sich ihr Gesicht mit etwas Toilettenpapier ab und lehnte sich gegen die Wand der Kabine, ließ das Metall ihre verschwitzte Stirn kühlen und wartete ab, ob ihr erneut übel würde. Eine unglaubliche Müdigkeit erfasste ihren gesamten Körper. In letzter Zeit schien sie ständig müde zu sein.
Sie hörte, wie die äußere Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. „Wie verrückt ist das denn bitte“, hörte sie jemanden sagen. „Ich muss mich auf meiner eigenen Hochzeit zurückziehen, um mein Baby zu stillen.“
„Das ist überhaupt nicht verrückt, Sophie“, sagte jemand anderes. „Es ist ein Segen.“
Nina verließ die Kabine absichtlich geräuschvoll, damit die beiden Frauen wussten, dass sie nicht alleine waren. Sophie, die Braut, und ihre beste Freundin Miranda saßen in dem Vorraum der Toilette, der mit rustikalen Bänken und einer Frisierkommode eingerichtet
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