Bewahre meinen Traum
einmal losfahren“, sagte ihre Mutter.
Nina fiel zum ersten Mal auf, dass ihre Mutter etwas anderes als ihre üblichen Mutterklamotten trug – Jeans und Sweatshirt und Turnschuhe. Heute Morgen hatte sie einen Rock und ein Twinset an und dazu flache Pumps.
Eine fürchterliche Ahnung überfiel Nina. Irgendetwas – von dem Offensichtlichen mal abgesehen – stimmte nicht. „Was ist los?“
Ihre Ma beugte sich vor, um sich am Spiegel im Flur Lippenstift aufzutragen. Dann klappte sie ihre Handtasche mit einem entschlossenen Schnappen zu. „Ich habe in der Schule angerufen und Bescheid gesagt, dass du heute später kommst. Wir fahren zusammen zum Arzt.“
„Ich bin nicht krank“, platzte Nina heraus.
Ma nickte nur. Komisch, was für eine stille Person sie eigentlich war. Man hätte sie für laut halten können, weil sie ständig brüllte. Doch nicht freiwillig. Sie schrie, weil das die einzige Möglichkeit war, gehört zu werden. Ihr war es viel lieber, leise zu sprechen.
„Ich weiß, dass du nicht krank bist“, sagte sie leise. Sehr leise. „Wir gehen zu Dr. Osborne.“
Oh. Dr. Osborne war Frauenarzt.
Nina drückte den Rucksack gegen ihre Brust. „Ma …“
„Es ist an der Zeit“, sagte sie. „Vielleicht sogar schon darüber hinaus.“
Nina wusste nicht, was sie sagen sollte. In einer kleinen Ecke ihres Gehirns fühlte sie einen Strudel der Erleichterung. Zumindest war ihr Geheimnis jetzt keins mehr. Sie hatte überlegt, Jenny oder einer ihrer Schwestern davon zu erzählen, aber sie hatte nie die richtigen Worte gefunden. Angst und Scham hatten ihre Lippen versiegelt. Jetzt zwang ihre Mutter sie, sich dem Thema zu stellen.
Wie eine Kriegsgefangene ging sie ihrer Mutter voran zum Auto und stieg ein. Genau wie alles andere, was den Romanos gehörte, war der Ford Taurus schäbig und veraltet und eher praktisch als stylish. Nina fragte sich manchmal, ob ihre Mutter je davon träumte, einen Alfa Romeo oder sogar einen Cadillac zu besitzen, etwas mit ein bisschen mehr Stil. Heute jedoch konnten diese Gedanken sie nicht ablenken.
Sie fuhren eine ganze Weile schweigend. Nina schaute aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Szenerie und versuchte mit aller Kraft, die Welt da draußen durch den Nebel aus Nervosität und Panik dringen zu lassen, der sie umgab. Avalon war im Herbst am schönsten, wenn die Bäume noch ein letztes Mal ihre ganze Farbenpracht zeigten, bevor der Winter kam. Die Ahornbäume bemalten die Berge mit brennendem Pink und Orange und Bernstein. Vor ihren Holzhäusern harkten die Menschen das Laub zu großen Haufen zusammen. In den Blumenkästen der Läden auf der Main Street wuchsen Chrysanthemen und Astern. Sie kannte jeden in der Stadt, alle Familienbetriebe – Zuzu’s Petals Boutique, den Camelot Buchladen, die Sky River Bakery der Majeskys, Palmquist Jewelry. Und jeder kannte die Romano-Familie. Ihr Dad war der beliebteste Lehrer der Highschool und gewann den Titel „Lehrer des Jahres“ öfter als jeder andere auf der Schule. Einmal hatte er ihn sogar für den gesamten Staat gewonnen. Sie waren als „gute“ Familie mit „netten“ Kindern bekannt. In einer Stadt wie dieser bedeutete das etwas. So viele Teenies wurden dabei erwischt, wie sie durch die Hintertür von Wegmans Bier stahlen, Briefkästen an der River Road zerstörten oder auf den Wasserturm kletterten. Nicht aber die Romanos. Jeder bewunderte die relativ wohlerzogenen Romano-Kinder.
Sie waren nicht gerade Messdiener und Pfadfinderinnen, aber sie gingen zur Schule, machten Sport und hatten alle kleine Jobs nach der Schule. Keiner von ihnen wurde je auf dem Rücksitz eines Streifenwagens nach Hause gefahren. Es war in der Stadt wohlbekannt, dass die Romanos sich niemals ein großes, hübsches Haus oder ein neues Auto oder Urlaub in Florida würden leisten können. Sie würden niemals auf Privatcolleges gehen oder einem Country Club beitreten. Aber das schien auch nicht wichtig zu sein, denn als Familie hatten sie etwas, das Geld nicht kaufen konnte: „gute“ Kinder, um die sie jeder in der Stadt beneidete.
Bis jetzt. Bis Nina es geschafft hatte, sich in einen so schlimmen Schlamassel zu reiten, dass sogar ihre Mutter böse auf sie war.
Sie rang ihre Hände im Schoß und gab den Versuch auf, sich auf die Welt da draußen zu konzentrieren. „Es tut mir leid, Ma“, sagte sie.
Ihre Mutter behielt den Blick auf die Straße gerichtet. „Wir kriegen das schon hin.“
Jetzt fühle Nina sich noch schlimmer. Sie
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