Bewegt Euch
hielt der Jim-Effekt nicht lange an. Kaum zurück in der Alltagsmühle, waren die guten Gedanken verschwunden. Ich hatte mich noch immer verloren. Bis Karsten eines Tages auf ein Bier vorbeikam. Karsten und mich verbindet eine eigen artige Geschichte. In den Tagen nach dem Mauerfall sendeten die Hamburger Lokalradios Hilferufe an die Bürger. Unter künfte wurden benötigt für die Brüder und Schwestern aus der DDR, die am Bahnhof Altona anlandeten in dem Glauben, im Westen würde alles besser.
Ich hatte meinen ersten Job angetreten und meine erste kleine Wohnung bezogen. Mit der DDR hatte ich nie zu tun gehabt, außer bei jenem Handballspiel 1975. Das graue Gebiet jenseits der Mauer war mir fremder als Italien oder Griechenland. Umso gespannter war ich, welche Wesen da lebten. Kurzentschlossen bot ich beim Radio ein Notbett bei mir an. Drei Stunden später der Rückruf. In der Bahnhofsmission Altona stünde ein Kandidat zur Abholung bereit – Karsten.
Er war Ingenieur für medizinische Geräte und ganz anders, als ich mir den Ossi vorgestellt hatte, wenn man mal von den komischen Jeans und der eigentümlichen Sprache absah. Zu Orangensaft sagte er »Djschuus«. Nach einer Woche wagte sich mein Untermieter erstmals auf den Jungfernstieg, um die Schaufenster zu betrachten. Nach zwei Wochen hatte er einen Job als Croissant-Bäcker; frühes Aufstehen war kein Problem. Nach vier Wochen besuchte er die Messe für medizinische Geräte in Düsseldorf, nach sechs Wochen hatte er einen Job bei einem internationalen Konzern.
Und jetzt, fast zehn Jahre danach, führte er seine eigene Firma. Unsere Rollen hatten sich vertauscht. Ich, der einstige Alles-Checker-Wessi, klagte beim früheren Ost-Trottel über Unzufriedenheit, diese unklare Überforderung, alles stemmen zu müssen, aber nichts auf die Reihe zu bekommen. Karsten, der seine Rolle als Jammer-Ossi überhaupt nicht einzunehmen gedachte, hörte still zu. »Ich hab da eine Idee«, sagte er schließlich. Ich erwartete ein Job-Angebot oder zumindest eine Einladung zu einem Männerurlaub im Süden. Doch Karsten gab mir nur eine Telefonnummer, mit den Worten: »Versprich mir, dass du das machst.« Ich nickte, ohne zu wissen, was oder wer sich hinter dieser Nummer verbarg.
Drei Wochen später stand ich im Münchner Flughafen. Karsten hatte mich auf ein merkwürdiges Seminar geschleust. Immerhin hatte er die Bedenken meiner Gattin zerstreut, dass es sich um ein Swinger-Treffen, Scientology oder einen Strukturvertrieb für Kupfermatten gegen Erdstrahlen handeln könnte. Ich verfluchte Karsten. Ich wollte keinen Esoterikkurs mit unglücklichen Hausfrauen absolvieren. Ich wollte weder Urschreie noch Seidenmalen. Vor Feuerlaufen hatte ich Angst. »Mach einfach«, hatte Karsten gesagt. Toll. Mach’s einfach. Turnschuh-Reklame. Was sollte ich machen? Und wieso?
Das kann ich hier leider nicht ausführen. Es gehört zum Prinzip dieses Seminars, über den Ablauf zu schweigen, um anderen Kandidaten nicht die Überraschung zu nehmen. Nur so viel: Jeden Morgen stand Bewegung auf dem Programm, sehr früh, dafür kurz. Es gab zwar keine Aufgabe, aber die Teilnehmer schienen zu wissen, was zu tun war. Alle rannten wie die Verrückten den Berg hinab und keuchten bald wieder hinauf, als ginge es um olympisches Gold.
Am ersten Morgen bin ich mitgerannt. Wollte ja zeigen, wie fit ich bin – was ich gar nicht war.
Am zweiten Morgen passte ich auf, wie die Aufgabe tatsächlich lautete. Die anderen rannten wieder los. Ich aber schlen derte, als Einziger. Ich wollte Letzter werden, was mir auch gelang.
Am dritten Morgen schließlich lief ich sehr locker den Berg hinab und rückwärts wieder hinauf, den Blick also nicht gipfel-, sondern talwärts gerichtet. Zwischendrin pflückte ich Blümchen für eine Seminarleiterin. Einschleimen ist ja nicht verboten. Inzwischen hatten alle Teilnehmer angefangen, ihr eigenes Tempo zu wagen. Manche joggten, andere spazierten. Klingt banal, war aber wichtig: In zwei Tagen hatten wir gelernt, auf uns und andere zu hören. Burn-out-Kliniken behandeln mit derlei Methoden inzwischen jedes Jahr Zehntausende, die verlernt haben, auf sich zu hören, wie Professor Götz Mundle weiß, Leiter der auf Ausgebrannte spezialisierten Oberberg-Kliniken.
Eine der Abschiedsaufgaben bestand darin, eine besonders emotionale Situation im Leben zu visualisieren, einen Moment reinen Glücks. Der Anstand befahl mir, das Abitur, die Führerscheinprüfung, Hochzeit oder Geburt
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