Bewegt Euch
Was will ich? Was soll das? Die Laune ist anhaltend schlecht, der Alkoholkonsum dauerhaft zu hoch, der Blick in den Spiegel jeden Morgen eine Klatsche. An Emotionen gibt es nur Wut und Verzweiflung zur Auswahl, an Plänen entweder Amok oder Suizid.
Was war mit mir geschehen, etwa zehn Jahre seit meinem glorreichen Triathlon? Ganz einfach: Ich hatte Morbus Fischer. Die Gewichte hatten sich verschoben. Arbeit und Familie erzeugten einen diffusen Druck, der zu einer immer größeren Last anwuchs. Ich war unleidig und übergewichtig und trank zu viel. Heimlich las ich Lebensberatungsbücher, in der Hoffnung auf einfache Wege zu neuer Ordnung. Flucht-Fantasien. Noch mal neu anfangen, als Tauchlehrer in der Karibik oder Ranger in Kanada.
Schwachsinn, klar, aber doch informativ, da die Träume von einem neuen, anderen, einfachen Leben mit Natur zu tun hatten und mit Bewegen. In der Realität war ich das Gegenteil: eine Randfigur des medial-politischen Betriebs, sich ihrer Bedeutung mal über-, mal unterbewusst, gefangen in klimatisierten Konferenzräumen, Hotels und Ministerien. Statt draußen bewegen, drinnen verschimmeln.
Interessiert beobachtete ich den Kollegen Dirk, der seinen Weg gefunden hatte, mit Spannung umzugehen. Als Journalist hatte er Freude daran, die Republik jeden Montag ein bisschen wackeln zu lassen, oft nur um des Wackelns willen. Seine wahre Leidenschaft allerdings galt der Jagd. Ob er mit seinem Gewehr durchs Siebengebirge schnürte, mit seinem Boot in der Irischen See auf Hummerfang ging – Dirk hatte seine Passion gefunden. Er lebte seine Triebe als Jäger und Sammler aus.
Dirk habe ich zu verdanken, dass ich in den Neunzigerjahren nicht komplett durchdrehte. Denn eines Tages bot er mir sein kleines Sommerhaus in West Cork als Urlaubsdomizil an. Ein Blick auf die Landkarte bestätigte den Verdacht: Ringsherum war eigentlich nur Gegend, schroffe Klippen, die steil in den Atlantik fielen, Wiesen, wo die Schafe grasten, und ein paar verschrobene Nachbarn, die die Ruhe weg hatten. Drei Frühsommer lang verkrümelte ich mich mit Frau und kleinem Sohn in dieses grüne Nichts. Der Tag begann mit einem Spaziergang ans Meer und endete mit einem Blick in den sternenklaren Himmel. Hier gab es keinen Druck, aber Pfeil und Bogen und einen Bumerang. Es gab die Angeln und das Beil, mit dem ich Holz für den Kamin spaltete. Es gab endlose Wege an der Küste entlang und sehr viele flache Steine, die über die Wellen hüpfen wollten. Und es gab Jim Kennedy mit seinen Kajaks.
Jim war ein Kraftklotz, der bei zwei Weltmeisterschaften gestartet war und brutale Kajak-Marathons gewonnen hatte. Ein paar Schicksalsschläge hatten ihm eine sicher geglaubte Olympia-Teilnahme versaut. Jetzt betrieb Jim eine Kajakschule in Union Hall. Jeden Tag auf dem Wasser, Hänger mit Booten am Jeep und hinterher Stampfkartoffeln mit Fleisch und Soße. Genauso sollte mein Leben fortan sein.
Jim lächelte milde. Freundlich erklärte er mir, dass ihm ungefähr einmal pro Woche ein Großstädter erzählte, wie gut er es doch habe mit seinem Leben hier draußen. »Lass uns tauschen«, entgegnete Jim dann stets: »Du betreibst für ein Jahr die Kajakschule, und ich ziehe mit meiner Familie in deine schicke Altbauwohnung in irgendeine Stadt Europas.«
Jim war ein ausgesprochen lehrreicher Zeitgenosse, auch wenn ich die Eskimorolle bis heute nicht beherrsche. Zum Paddeln mit Jim komme ich später noch.
Die wichtigste Lehre aus den Tagen mit Jim: Es gibt ein Hier und Jetzt. Der Moment, wenn der Brecher über den spitzen Bug schlägt, die Sekunde, da sich unser Sohn voller Begeisterung nach rechts wirft und den Doppelkajak zum Schwanken bringt, der Augenblick, da das Paddel aus den Händen gleitet – all diese kleinen und völlig normalen Katastrophen verscheuchen gründlich jede Grübelei.
Die Seele des modernen Menschen werde von zwei Zeitpfeilen getroffen, sagt der Psychologe Wolfgang Schmidbauer. Der eine komme aus der Vergangenheit, der andere aus der Zukunft. Die beiden großen Fragen, die uns umtreiben, lauten: Wird es demnächst besser sein? Und: War nicht früher alles besser? Wir neigen dazu, beide Fragen mit »ja« zu beantworten, mit fatalen Folgen für die Gegenwart. Entweder tummele ich mich in Wolkenschlössern von morgen, oder ich idealisiere ein diffuses Früher, das durch die Gnade des Vergessens von vielen bösen Erlebnissen gereinigt worden ist. Zu kurz kommt das Jetzt. Im Kajak kam es wieder, Moment für Moment.
Leider
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