Bewegt Euch
auszuwählen. Aber mein Gefühl verlangte nach einem ganz anderen Augenblick, den ich längst verschüttet hatte: just jene Sekunde, als ich beim Grünwalder Burgtriathlon ins Ziel getaumelt war.
Bis heute weiß ich nicht, warum ausgerechnet dieser objektiv nicht lebensentscheidende Augenblick so viel Kraft entwickelt hat. Aber ich betrachte die Erkenntnis als Hinweisschild ins Unterbewusstsein. Dort hatte sich dieser Triathlon offenbar eng mit Glück, mit Wohlgefühl und Zufriedenheit verknüpft. Und jetzt? Keine Ahnung.
Der Achimedische Punkt
Du willst es doch auch!
Achim Achilles
Berliner Hauptbahnhof, gut zehn Jahre später. Wieder hat ein ICE Hunderte erfolgreicher ernährungs- und selbstbewusster Menschen auf den Bahnsteig im Tiefgeschoss entlassen. Lange Schlangen an den Rolltreppen. Die grauen Stufen dazwischen sind leer.
»Los jetzt«, befiehlt Achim.
Ich zögere. Mein Knie. Und der Muskelschmerz vom Abendlauf gestern.
»Hör mit den billigen Ausreden auf«, sagt Achim, »die Blonde guckt schon. Nimm zwei Stufen auf einmal.«
»Aber …«, entgegne ich.
»Sag mir einen Triumph, der mit ›aber‹ begonnen hat«, drängelt Achim: »Jetzt mach schon!«
Na gut. Als würde es mir nichts ausmachen, steige ich, immer zwei Stufen auf einmal. Ich fühle mich wie Frank Sinatra, auch wenn der die Show-Treppe immer nur hinabgestiegen ist. Ich lasse mir nicht anmerken, dass der linke Oberschenkel nach etwa sieben Sekunden zu maulen beginnt.
Die Rolltreppenfahrer gucken, das weiß ich genau. Cool bleiben. Kein arroganter Gesichtsausdruck. Blickkontakt vermeiden. Tempo halten. Früher bin ich leichtsinnig schnell losgestiegen. Inzwischen klettere ich ruhiger, dafür gleichmäßig wie ein Tiroler Bergführer. Männer in der Blüte ihrer Jahre dürfen alles, nur nicht schlappmachen. Nicht mal langsamer werden.
Treppensteigen, wenn alle anderen eingeklemmt auf dem Förderband stehen und gucken, das bedeutet pure Lebensfreude. Ich bin hart drauf. Abenteurer im Großstadtdschungel, der keine Gefahren scheut. Ich habe sie bezwungen, diese dreimal zwölf kalten, feindseligen Stufen, ohne Sauerstoffgerät. Mensch gegen Maschine. Der Sieg über Stahl und Strom. Mein Puls klopft leicht im Ohr. Es klingt wie Applaus.
Die Männer auf der Rolltreppe hassen mich, weil sie selbst nicht auf diese Idee gekommen sind. Dafür gehen sie gleich ins Fitness-Studio, auf den Stepper. Ich habe den ganzen Tag gesessen, geredet, gespachtelt. Meine Beine sind dankbar für Auslauf, der Kopf begrüßt das Training. Meine Seele genießt den Vorsprung, den ich gegen die Rolltreppenfahrer herausarbeite.
Endlich oben. Kleiner Rausch. Mühsam verkneife ich mir, die Fäuste emporzureißen, zu hüpfen und den Rocky-Song »Gonna fly now« zu summen. Vielleicht hat kein Schwein geguckt. Aber ich fühle mich großartig. Und jetzt mit dem Rad nach Hause, 20 Minuten an der Spree entlang, durch den Tiergarten, Sommerabendluft um die Nase. Ich hasse Tage, an denen ich mich nicht bewegen kann. Treppen und Rad sind die minimale Tagesdosis, die ich zum Wohlbefinden brauche.
Dass ich den Versuchungen des bequemen Transports oft widerstehe, das habe ich Achim zu verdanken. Auf Achim kann ich mich verlassen. Wo andere einen Schweinehund in sich zu tragen glauben, da rumort mein innerer Achim. Er ist eitel, er ist ehrgeizig, er ist verrückt, und er ist immer da. Achim ist das Tier in mir, ein hibbeliger, unruhiger Geist, der sich austoben will, bisweilen ziemlich unvernünftig. Trainingspläne sind ihm ein Gräuel, an 48-Stunden-Programme fürs Sixpack hat er nie geglaubt.
Es hat fast fünfzig Jahre gedauert, bis wir uns verstanden haben, Achim und ich. Hier der tendenziell zügellose, un disziplinierte, vergnügungssüchtige Nachts-den-Kühlschrank-Plünderer. Dort der freche Achim, der mal als Gewissen fungiert, mal als Antreiber, mal als Gehenlasser.
Er begleitet mich seit zehn Jahren. Und ich weiß nicht mal, woher er kam. Plötzlich war er da, dieser Achim Achilles, völlig unerwartet. Er wurde während eines Trainingslaufs geboren, an einem sonnigen Frühsommermorgen zu Beginn des dritten Jahrtausends, auf dem Spazierweg zwischen Bootsverleih und der südlichen Spitze des Schlachtensees, mitten im Berliner Grunewald.
Während ich einsam trabend auf dem Wortspiel »Achilles’ Verse« herumdachte, da lief er plötzlich neben mir, mit mir, aus mir heraus, dieser Achim. Er schien aus dem Nichts gekommen zu sein. Heute weiß ich, dass sich Achim
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