Bewegt Euch
würde ich endlich an meiner Kraft arbeiten. Und einmal die Woche knallhartes Tempo-Training auf der Bahn. Jetzt mussten nur noch Schwimmen, Rumpfstabilitätsprogramm und die Aktiv-Ferien mit der Familie untergebracht werden. Ein Trainingslager zu Ostern würde allen guttun, vor allem mir.
Um meinen guten Willen mit einem Ausrufezeichen zu versehen, meldete ich mich umgehend für die Winterlaufserie an, drei Januarsonntage mit zehn, 15 und 21 Kilometern. Es würde mein Sportjahr. Aber diesmal wirklich.
Wie jedes Jahr hatte sich der Kalender blitzartig gefüllt. Jedes Wochenende, jeder Abend, eigentlich jede freie Sekunde der kommenden 365 Tage waren vollgestopft. Es gibt keinen sichereren Weg zu schlechter Laune, Verletzungen und nachhaltigem Unwohlsein.
Das Jahr zur Abschreckung im Schnelldurchlauf
Januar:
Tatsächlich nahm ich an der Winterlauf-Serie teil und schaffte trotz biestigen Wetters ordentliche Zeiten. Erwartungen wuchsen. Ich fühlte mich bereit für Rekorde.
Februar:
Im Job kamen leider unerwartete neue Aufgaben auf mich zu, die meinen ambitionierten Trainingsplan torpedierten. Ich saß nächtelang am Schreibtisch, zwang mich aber morgens früh zu kurzen, kraftraubenden Einheiten im Fitness-Studio. An den Wochenenden standen lange und sehr lange Läufe an. Grundlage, Grundlage, Grundlage. Die Meister des Sommers werden im Winter gemacht. Als ich klagte, dass ich auf den letzten Kilometern völlig kaputt sei, lächelte der Coach nur milde: »Das ist auch eine Charakterfrage.« Ich dachte: »Arschgeige« und kämpfte weiter.
März:
Ein mächtiger Herpes signalisierte, dass mein Immunsystem im roten Bereich schuftete. Sicher Zinkmangel. Die Morgen in der Mucki-Bude hatte ich gestrichen. Ich kam einfach nicht aus dem Bett. Die Furcht vor dem Halbmarathon wuchs ins Unermessliche. Immer wieder rechnete ich auf Zeiten, Stre cken, Durchschnittswerten herum, verglich mit Vorjahren. Zwei Wochen vor dem Halbmarathon überfielen mich Fieber und Schüttelfrost. Ich zwang mich zwei Tage ins Bett, oder jedenfalls eineinhalb. Dann versuchte ich einen Trainingslauf. Der Rückstand im Plan brachte mich um den Verstand. »Charakter«, hämmerte es im Hirn, »Charakter!«
April:
Halbmarathon. Ich fühlte mich wie eine getrocknete Tomate mit Schimmel. Auf der Läufermesse hatte ich mich mit einem sündteuren Vitamin-B-Präparat versorgt, mit Powergels und Eiweißriegeln. Vom ersten Kilometer weg blieb ich unter meiner angepeilten Zeit, nach fünf Kilometern wollte ich mich auf den Bordstein hocken, um erst zu heulen und mich dann umzubringen. Zehn Minuten langsamer als im Vorjahr. »Was war los?«, fragte der Coach. »Charakter«, bellte ich. Um mich zu bestrafen, lief ich in der Woche darauf jeden Tag. In der zweiten Monatshälfte kam ich kaum noch die Treppen hoch. Vom unteren Rücken bis ins rechte Knie zog sich ein unerklärlicher Schmerz. Woche für Woche kam eine neue Fast-Infektion dazu, ich bewegte mich bei maximal 70 Prozent meiner eigentlichen Kraft. Einmal immerhin war ich mit dem Kleinen Ballspielen, leider ließ das Knie keine längeren Kunststücke zu. Ich floh aufs Rennrad.
Mai:
Zwei Wochen voller Arbeit, Feiern, reduzierter Trainingspläne. Ich schaffte weder die vorgegebenen Zeiten im Plan noch die Strecke. Schwimmen kam zu kurz. Gute Zeit beim Velothon. Hoffnung keimte.
Juni:
Wettbewerbe ohne Ende: kleine Läufe, Firmenstaffel, mit dem Kleinen ein Bambini-Lauf, Sonntag im Kanu. Das Rücken- Knie-Problem hatte es sich bequem gemacht. Ich rannte einfach drüber hinweg. Plötzlich wieder Fieber. Sommergrippe. Ist normal. Bringen die Kinder aus der Schule mit. Bisschen Homöopathie aus der Apotheke, und weiter geht’s. Läufe, Ausfahrten, Übungen brach ich immer wieder ab. Im Büro schlief ich im Stehen ein. »Du siehst schlecht aus«, sagte meine Gattin. So fühlte ich mich auch. Ein kleines Sondertraining an der frischen Luft würde helfen.
Juli:
Ferien. Gipfelsturm. Doch statt drei Dreitausender am Tag unternahmen wir nur eine Kleinbesteigung im Morgengrauen. Wir hielten an jeder Walderdbeere. Standen einfach und sahen den Morgennebel aus dem Tal aufsteigen. Folgten dem Läuten der Kuhglocken und glotzten zurück. Zwei Wochen ohne Plan und Kilometer und Uhr, und ich spürte Kraft zurückkehren. Ein Gedanke überkam mich: Sollte ich mir immer häufiger, schneller, doller mit dem Hammer auf den Daumen schlagen, um den Heilungsprozess zu beschleunigen? Am Ende der Ferien Bergläufe, 40, 60,
Weitere Kostenlose Bücher