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Bewegt Euch

Bewegt Euch

Titel: Bewegt Euch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hajo Schumacher
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nicht, stellte sich für unsere Vorfahren überhaupt nicht: Sie mussten. Beutetiere, frisches Wasser, Beeren, Pilze oder eine Bestie im Nacken, immer gab es einen Grund zu wetzen. Rumstehen auf freier Wildbahn dagegen musste teuer bezahlt werden, meist mit dem Leben.
    Ruhe, Muße, Dösen, Rumgammeln gab es dennoch, aber nicht als Wellness-Angebot, sondern als knallharte ökonomische Notwendigkeit. Wer jeden Tag etwa einen Marathon läuft, wer lange harte Winter ohne Zentralheizung und Hungerattacken ohne Pizzeria um die Ecke überstehen muss, der achtet auf seine wenigen Ressourcen, zum Beispiel die eigene Körperkraft. Regenerieren in der Sicherheit der Höhle war als Überlebenstechnik so wichtig wie die Lauferei.
    Rennen und Pennen – diese widersprüchlichen Funktionen sind seither in unserem Körpergedächtnis fest verankert und lassen sich von keinem Motivationspapst dauerhaft verändern. Der Körper will ruhen, wenn er kann. Bewegen ist möglich, aber nur wenn es belohnt wird. In unserer modernen Welt muss der Mensch sich nicht mehr bewegen, um zu überleben. Es gibt Lieferdienste, Rolltreppen, Sex-Automaten. Der Fortschritt hat sich schneller entwickelt als die Gene. Deswegen hat Bewegen so häufig mit Überwinden zu tun. Wir wollen eigentlich gar nicht.
    Bleibt die Frage: Was tun mit dem Schweinehund? Zwar weiß unsere Vernunft jetzt, dass es das Viech gar nicht gibt. Aber unsere Emotion sieht ihn halt immer noch.
    Mir hat eine perfide Doppelstrategie geholfen: Zunächst geht es darum, den vermeintlich grimmigen Köter umzudeuten, am besten in einen alten Bekannten. Zweitens muss die Aggression aus dem Spiel. Wie bei einem guten Fußballmatch heißt die Parole: vom Kampf zum Spiel.
    »Ach, da bist du ja wieder, du kleines Mistvieh«, so könnte eine neue, überraschende Begrüßung lauten: »Was willst du mir denn heute vermiesen?« So verschwindet das Selbstquälerische, zugleich komme ich aus der Opferhaltung und gewinne das gute Gefühl, selbst zu entscheiden.
    Mit selbstbewusster Lockerheit wird kein Schweinehund fertig. Das Untier schrumpft von ganz allein und offenbart damit seine wahre Natur: Er ist immer exakt so groß, wie wir es zulassen. Wir schrumpfen ihn, sobald wir die Angst vor ihm verlieren.
    Ich habe den Schweinehund seit Jahren durch meinen Achim ersetzt: Wir zoffen, wir frotzeln, wir nerven. Aber wir haben uns darauf geeinigt, dass wir die Grundsatzfrage »Soll ich denn jetzt noch rausgehen?« kaum mehr stellen. Wir freuen uns auf ein, zwei Stunden allein oder mit Menschen, die wir mögen. Das ist unser Tagesurlaub. Die Belohnung: Wir fühlen uns hinterher immer besser als vorher.

Obama, Bohlen und ich

    Abb. g
    You can win if you want.
    Modern Talking
    Wir alle kennen diese beeindruckenden Geschichten: ohne Sauerstoff auf den Mount Everest, vom Junkie zum Ironman, barfuß durch die Wüste, von 0 auf 42 in acht Sekunden. Joey Kelly & Co. haben ihren Willen zum Beruf gemacht. Lange war ich fest überzeugt: Das schaffe ich auch, also ich könnte es jedenfalls, wenn ich die Zeit hätte – und den Willen.
    »Yes, you can«, hat Barack Obama in seinem ersten Präsidentschaftswahlkampf gepredigt und damit ein archaisches amerikanisches Gefühl getroffen, das schon Dieter Bohlen und Thomas Anders beseelte: »You can win if you want.«
    Heute weiß ich, dass diese Alles-geht-wenn-man-feste-genug-will-Phantasien nur von sehr speziellen Zeitgenossen in die Realität umgesetzt werden. Ich gehöre nicht dazu. Bei Durchschnittsbürgern wie mir erzeugen Allmachtsversprechen eher schlechte Laune. Denn der Umkehrschluss lautet: Wenn du es nicht schaffst, hast du einfach nur nicht genug gewollt, du Pfeife.
    Und so steuern wir schwer atmend im Gleichschritt in den Zustand kollektiver Überforderung, den die israelische Soziologin Eva Illouz modernen Gesellschaften attestiert. Müdigkeit, Erschöpfung, Unlust, Burn-out stellen auch Byung Chul Han ( Die Müdigkeitsgesellschaft ) und Alain Ehrenberg ( Das erschöpfte Selbst ) fest. Die Diagnose lautet immer gleich: zu viel, zu schnell, zu unkonzentriert. Immer mehr Optionen erzeugen immer mehr Stress.
    Triathlon für Berufstätige heißt zum Beispiel ein Ratgeber von zwei Athleten, die den Ironman auf Hawaii sehr respektabel unter neun Stunden gefinisht haben. Lebt man die Anweisungen solcher Bücher konsequent, sind die Folgen unweigerlich dramatisch: Beruf, Familie, Restleben werden rigoros dem Bewegungsziel untergeordnet. Ganz oben auf der

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