Bewegt Euch
du da? Und vor allem: Warum?
Bis zu diesem Sonntag dachte ich, dass ein guter Mensch ein Ziel brauche, ein Pflichtenheft, auch in der Freizeit. Erfülltes Bewegen, das war für mich gleichbedeutend mit dem Abarbeiten von Trainingsplänen, mit Bestzeit, natürlich beim Marathon. Aber wo steht, dass ich das muss?
Männer jenseits der Dreißig werden ja eigenartig. Fortwährend wollen sie etwas beweisen, sich, ihrer Frau, den Freunden, Kollegen, der ganzen Welt. Die Automobilindustrie lebt seit Jahrzehnten sehr gut von diesem Bedürfnis, genauso wie die Mode-, Kosmetik- und Pharmabranche. Der größte Profiteur der männlichen Midlife-Crisis ist allerdings der Geschäftszweig der Sport- und Abenteuerveranstalter.
Wem das Hundeschlittenrennen zu kalt, die Mount-Everest-Besteigung zu heikel ist, der nimmt halt eine Nummer kleiner: den Ironman auf Hawaii oder wenigstens Marathon in Berlin. Brandenburger Tor, Ku’damm, Schloss Charlottenburg – gute Fotos fürs Büro, gesellschaftlich akzeptierter Nachweis von Willen und Askese.
Es sind oft Kerle in den besten Jahren, die sich für den Marathon schinden. Darüber kann man höhnen. Aber wenn die Karriere stockt und die Partnerin deutlich macht, dass sie die Saulaune des Gatten bisweilen schwer erträglich findet, ist ein Marathontraining nicht die schlechteste Lösung. Männer achten auf sich, sie haben ein Ziel, vielleicht verarbeiten sie sogar die ein oder andere Schlappe auf ihren sonntäglichen Ausläufen. Jedenfalls sind sie weg von der Straße, trinken nicht so viel und verspüren endlich wieder Stolz.
Bis hierhin wäre alles gut. Doch nun kommt die irrsinnige Phase. Obschon keine großen Talente und garantiert ohne Aussicht auf irgendeinen vorderen Platz setzen sich ausgerechnet diese Männer ambitionierte Ziele. Daylight-Finisher auf Hawaii, Berlin-Marathon unter 3:30, Radrennen im 40er-Schnitt. Und wehe, das Ziel wird um eine Zehntelsekunde verfehlt. Wochenlange Depressionen drohen. Die Familie tut gut daran, vorübergehend in eine soziale Einrichtung umzusiedeln.
Ich gestehe: Auch ich habe gesessen, in diesem Sekundenknast. Die Gedanken flogen immer nur im Kreis. Ich habe fortwährend auf die miesen kleinen Terroristen der Uhr gestarrt, die sich aus maximal sieben kleinen Strichen zusammensetzen: Zahlen.
Jeder Läufer kennt die schnellsten Läufe seiner Karriere. Und wer noch nicht siebzig ist oder durch dreifachen Kreuzbandriss ewig lahmgelegt, der hechelt jedes Jahr aufs Neue seiner Spitzenzeit hinterher. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Bestzeiten sind eine prima Sache, die Goldmedaille des Durchschnittsläufers. Mancher ist stolz auf seine 57 Minuten auf zehn Kilometer, andere freuen sich über 47 Minuten, einige wenige schmücken sich gar mit einer stolzen 37.
Klar, Ziele sind wichtig. Sie motivieren und sorgen für gute Laune. Aber wer setzt die Ziele? Wer entscheidet, ob wir Zahlen Bedeutung beimessen oder dem fröhlichen Nachmittag mit netten Menschen an frischer Luft, dem guten Gespräch beim entspannten Trab, dem wohligen Gefühl der Erschöpfung, dem seelisch sättigenden Nachspüren, wie es ist, sich mal wieder überwunden zu haben. Badewanne kann auch ein Ziel sein.
Hat die millionenfache Hatz nach ein paar Sekunden Performance nun mehr Glück oder mehr Elend über die Freizeitsport-Gemeinde gebracht? Bei allem Respekt für jeden, der sich verbessert hat, bleibt die Frage nach all denen, die im verbissenen Training ihrem Körper und der Seele mehr Gewalt angetan haben als Gutes.
Ich war lange ein Performance-Süchtiger. Wie Flüche verfolgten mich drei Ziele beim Laufen: zehn Kilometer unter 45 Minuten, Halbmarathon unter 100 Minuten, Marathon unter vier Stunden. Achim sagt: »Es dreht sich nur um ein paar belanglose Zahlen.« Der Performer entgegnet: »Wenn ich nicht mal das schaffe, bin ich eine noch größere Wurst als ohnehin befürchtet.«
Und die Zeit arbeitete auch noch gegen mich. Wenn es stimmt, dass jedes Lebensjahr jenseits der Vierzig drei Prozent Leistungsverlust bedeutet, dann wäre es schon ziemlich gut, einfach nur konstant zu bleiben. Mit fast fünfzig bin ich immerhin nicht langsamer als mit Mitte dreißig, im Schwimmen sogar besser. »Was willst du denn noch?«, fragt Achim. »Unter 45, unter 100, unter vier«, antwortete der Performer. Er will das Adrenalin, wenn er sich am Start vor Angst fast in die Hose macht und im Ziel seinen Bestzeitstolz spürt.
Der Berlin-Marathon 2011 machte mir auf schmerzhafte Weise
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