Bewegt Euch
80 Minuten allein bergauf, über die Alm, herrliche Einsamkeit. Endlich war ich wieder bei mir. Leider war da noch der Marathon im September. »Schaffst du garantiert unter vier Stunden, mit meinem Plan«, hatte der Coach versprochen.
August:
Erstmals wieder Training im Stadion. Mit der Lunge voller Höhenluft rannte ich bei den Schnellen mit. Genau betrachtet operierte ich schon wieder im roten Bereich. Training unter Volllast macht nicht schneller, sondern laugt aus. Aber ich hatte noch so viel gutzumachen aus dem verkorksten Frühjahr. Qualität kommt von Qual – klare Sache. Also jede freie Minute ab in die Laufschuhe, morgens um sechs und abends nach zehn.
September:
Letzter Test: Halbmarathon. Ich bin merkwürdig benommen, antriebslos, ohne Willen. Das gibt sich bis zum Marathon. Nur noch zwei, drei Jobs vorher erledigen. Herpes-Kribbeln in der Lippe. Die letzten Trainingsläufe sind fürchterlich. Dann der Marathon-Start. Da muss man sich schlecht fühlen, das ist die Aufregung. Finale auf dem Rasen vorm Kanzleramt.
Oktober:
Ich grübele über die Fehler beim vermasselten Marathon nach. Ohne Ergebnis. Endlich wieder schlafen.
November:
Ein Aufsatz des klugen deutschen Volkstherapeuten Wolfgang Schmidbauer fällt mir in die Hände. Er schreibt vom Phänomen der »malignen Regression«. Wenn Dinge nicht so laufen wie geplant, neigt der moderne Mensch dazu, die Ziele heraufzusetzen, aber die Methoden beizubehalten. Ein relativ sicherer Weg, das Alte zu verlieren, aber nichts Neues zu gewinnen.
Erwartungen und Ängste sind keine Gegensätze, sondern Schwestern. »Die meisten Menschen verweigern sich der Einsicht, dass es ab einem bestimmten Punkt im Leben weniger darum geht, die eigene Geltung auszudehnen als ihr Schrumpfen möglichst weit nach hinten zu verschieben«, sagt der klarsichtige Schmidbauer.
Was hieß das für mich? Was wollte mich dieser Marathon lehren? Vor allem eines: Ich kann mich schnell ins Minus bewegen. Theoretisch bin ich wahnsinnig stark darin, mir einen Weg zu Wohlbefinden einzureden. Jetzt ging es darum, auf Achim zu hören und diesen Weg auch zu beschreiten. Das Vorhaben für das kommende Jahr lautete: beim geringsten Anzeichen von Erschöpfung sofort bremsen.
Dezember:
Keine Pläne für das neue Jahr. Endlich Freude. Und Wohlbefinden. Sagt Achim auch. Eine gute Voraussetzung, vielleicht doch noch mal beim Marathon anzugreifen.
Der Mythos vom Schweinehund
Chronisches Zweifeln ist die wirksamste Übung, um das Bezweifelte am Leben zu halten.
Peter Sloterdijk
Das gefürchtetste Sagentier des Breitensports liegt fett und faul in unseren Körpern und döst, solange der Mensch ebenfalls faulenzt. Sobald jedoch Bewegung ansteht, dreht das Viech durch. Es beißt und reißt an der Kette, es vergiftet jede Körperzelle mit seinem stinkenden Atem, bis der Mensch willenlos daliegt: So mächtig ist nur der innere Schweinehund. »Verrate doch mal ein paar Motivationstricks«, so lautet die häufigste Bitte bei meinen Lesungen. Viele Menschen glauben tatsächlich an ihre eigene Doofheit. Sie meinen, sich selbst überlisten zu können. Aber einen nieseligen Novembertag kann nicht mal Semioni Rossi schönsingen.
Schade um das prächtige Feindbild, aber: Der innere Schweinehund hat einen Bruder, den Yeti. Beide hat man nie gesehen. Dennoch glauben wir gern an ihre Existenz. Denn die Viecher versinnbildlichen starke menschliche Empfindungen. Der Yeti steht für die Urangst vor der wilden Natur, der Schweinehund repräsentiert die gute alte Unlust.
Vernunftbegabt wie wir nun mal sind, glauben wir, diese Unlust ließe sich schnell mal wegprogrammieren mit Tricks, Hypnose oder Belohnungen. Leider falsch. Im Alter von vierzehn Jahren liegen unsere Verhaltensmuster im Wesentlichen fest, die meisten davon im limbischen System unseres Hirns, sagt Professor Gerhard Roth, einer der klügsten deutschen Hirnforscher. Diese Tiefen unserer Persönlichkeit sind uns kaum bewusst. Mal eben Schalter umlegen, das funktioniert leider nicht.
Lässt sich Verhalten gar nicht ändern? Doch. Aber nur begrenzt. Roth zufolge gibt es fünf Wege. Die ersten vier lauten: per Befehl, durch den Appell an die Vernunft, an die Solidarität, an die Bedürfnisse.
Kann mir jemand dauerhaft Bewegen befehlen? Höchstens Mona. Würde ich aus Vernunftgründen an eben jenem nieseligen Novembermorgen vor die Tür gehen? Nun ja. Würde ich einen Freund begleiten, der mich bittet? Dann und wann. Verspüre ich ein Bedürfnis?
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