Bewegt Euch
klar, wie weit die Performance-Falle aufgestellt war. Ich hatte wirklich gut trainiert. Im Urlaub in Tirol war ich jeden zweiten Tag von 1 400 auf 2 000 Meter Höhe getrabt. Ich hatte die Lunge mit roten Blutkörperchen gefüllt. Dass ich unterhalb der Hotelterrasse auf einem selbst vermessenen 450-Meter-Kurs meine Tempoläufe absolvierte, amüsierte die Frühstücker. Egal. Es machte mir Freude, meine Form zu performen. Darstellendes Leisten.
Mein Ziel waren die vier Stunden. Leben im Tunnel. Ich trainierte verbissen, ich schlief zu wenig und arbeitete zu viel. Ordentliches Regenerieren war da nicht drin. Der Blick morgens in den Spiegel erforderte Überwindung. Das war kein Topathlet, der da aus seinen verschwiemelten Augen blinzelte, sondern ein Wrack. Statt zu ruhen, schob ich eine weitere Trainingseinheit ein. Achim lag gefesselt und geknebelt in der Ecke. Ich wusste, was er sagen würde, wollte es aber nicht hören. Ich war gute deutsche Tugendhaftigkeit: Wer früh morgens um sechs läuft, wer sich zwingt, wer kämpft, wer den Schmerz ignoriert, nur der ist reif für Außergewöhnliches.
Ich wollte die verdammten vier Stunden erzwingen, mit Gewalt gegen mich selbst. In Wirklichkeit wollte ich natürlich eine 3:43 h, wie Joschka Fischer. Eigentlich war er mein Gegner. Als wir in Hamburg noch einmal gemeinsam Laufen waren kurz vor der Bundestagswahl 1998, die ihn zum Außenminister und Vizekanzler machen würde, da zog er am Elbberg plötzlich davon, einfach so, ohne Ansage, obwohl ich immer schneller gewesen war. Immer hatte ich auf ihn gewartet, auch wenn er bei der geringsten Steigung ins Schnaufen kam und gehen musste. So gehört sich das im Freizeitsport. Aber Fischer war kein Sportsfreund, sondern ein Kampf-Performer. Für seinen Sieg hätte er alle und alles geopfert. Abgesehen von der Demütigung, abgehängt worden zu sein, habe ich Fischer diesen Egotrip nie verziehen. Als späte Rache hatte ich mir 3:43 h vorgenommen. Die Sache musste geklärt werden.
Am Start in Berlin herrschte ein großes Durcheinander in meinem Kopf. Ich hatte schlecht geschlafen, mein Kumpel Manni aus Münster hatte mir versprochen, uhrwerksgleich bei 3:50 h ins Ziel zu kommen. Natürlich wollte ich ihn bei Kilo-meter 30 verlassen, um die 3:43 h zu schaffen. Ich hatte etwa 50 000 Hobbyläufern auf der ganzen Welt via Facebook mitgeteilt, was ich vorhatte. Dass ich in Wirklichkeit nur Fischer schlagen wollte, wusste keiner.
Manni, das Uhrwerk, hatte leider keinen guten Tag erwischt und war bereits nach zehn Kilometern außer Sicht- und Hör weite geraten. Auf der Hälfte war ich noch gut auf Fischer-Kurs. Auf den nächsten zehn Kilometern begleitete mich ein netter junger Mann, der sich alle Viertelstunde in den Finger pikte, um seinen Blutzuckerspiegel zu testen. Er musste aufpassen, dass sein Stoffwechsel stabil blieb. Ich fand es faszinierend, wie er sein Messgerät aus dem Bauchbeutel klaubte, pikte, guckte, und das alles im Laufen. Dieser junge Mann war nicht nur Diabetiker, sondern ein schneller Diabetiker. Respekt.
Leider war er ein wenig zu schnell gewesen. Wäre der Marathon bei Kilometer 32 zu Ende gewesen, hätte ich Fischer besiegt und alle meine anderen Ziele erreicht. Dummerweise kamen noch zehn Kilometer. Und die gehörten zum Schlimmsten, was ich je erlitten habe. Meine Familie wartete bei Kilometer 34, auf dem Kurfürstendamm. Immer gut zu wissen, dass es einen Punkt gibt, an dem man zuversichtlich und einigermaßen restkraftvoll aussehen sollte. Das Problem: Was kommt nach diesem Punkt?
Nichts als Elend. Zuerst war da dieses merkwürdige Zucken in den Oberschenkeln. Ist nichts, sagte der Performer, ist echt nichts. Das Zucken wanderte in die Waden. Ist vielleicht doch was, meinte mein Kopf. Ist nichts, wiederholte die Maschine. Achim zerrte an seinen Fesseln.
Der Potsdamer Platz, etwa vier Kilometer vor dem Ziel, ist die letzte große Bühne vor dem Brandenburger Tor. In der Gasse der Jubler sollte man noch halbwegs gut aussehen. Gleich danach, in den Schluchten der Leipziger Straße, die finale Einsamkeit der Tausenden. Trauermarsch. Schnaufen, Stampfen, Schmerzen. Und mittendrin ich mit aufsteigenden Krämpfen.
Ich versuchte, Erfolgsbilder im Kopf zu mobilisieren. Ich ging langsam an den letzten Getränkestand heran, dehnte meine kaputten Beine, presste Isotonisches in meinen Verdauungstrakt in der Hoffnung, dass Salz oder Kalzium oder Magnesium oder irgendein verdammtes Kohlehydrat meine bebenden
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