Bewegt Euch
Schenkel zur Ruhe bringen würden. Keine Chance. Stehen bleiben. Verschärftes Beben. Vorsichtig die Zehen auf die Bordsteinkante. Glühende Messer im Bein. Zuschauer gucken. »Ist nicht mehr weit«, sagt einer. »Danke«, sage ich. »Schnauze«, denke ich.
Was ist los? Wieder nicht genug trainiert? Ein verschleppter Virus? Zu schnell angegangen? Immer wieder der Blick auf die Uhr. Hektisches Rechnen. Die Fischer-Zeit ist längst zum Teufel. Aber die vier Stunden gehen noch. Vorsichtige Schritte. Zing. Die glühenden Messer stecken tief. Ein Sportskamerad klopft mir im Vorbeilaufen auf die Schulter: »Auf geht’s, Achim.« »Ja, ja, ja«, denke ich, »meinst du, ich stehe hier freiwillig rum?«
Für die letzten zwei Kilometer brauche ich fast eine halbe Stunde. Viel Stehen, wenig Gehen, kein Laufen mehr. So muss sich die Bastonade bei den preußischen Soldaten angefühlt haben. Hunderte, vielleicht Tausende Mitläufer überholten mich. Manche sahen ziemlich locker aus. Und ich? Ich war gescheitert, mit all meinen Zielen. Und dafür hatte ich monatelang auf Zahlen gestarrt.
Ich hatte im Ziel zwei Becher alkoholfreies Weizen erobert, eine Plastikdecke und taumelte auf den Rasen zwischen Tipi und Kanzleramt. Ansatzlos erbrach ich den ersten halben Liter Bier und rollte mich in die Folie. Mein Körper lief im Notmodus. Ich spähte matt durch die Grashalme, sah Läuferbeine, hörte Juchzen und Klagen. Zuschauer stiegen über mich hinweg. Ein Sanitäter schlich aufmerksam um mich herum. Alles klar? Ja, ja. Gammelfleisch im Plastikmantel. Dösen. Stumpfes Gucken. Wieder dösen. Warum nur bekam mich dieser elende Marathon so unendlich klein? War es Magnesiummangel? Trainingsfäule? Die gefühlten Erwartungen anderer?
Wahr ist: Ich bin kein Performer. Schon am Start war ich verbissen und ängstlich. Der Wettkampf hatte beim besten Willen keinen Spaß gemacht. Der ständige Blick auf die Uhr war keine fröhliche Freizeit, sondern einfach nur Stress. Und die nächsten Wochen würde ich kaputt sein. Achim hatte sich aus den Fesseln befreit und murmelte nur: »Raus aus der Performance-Falle.«
Natürlich freue ich mich über eine gute Zeit. Aber sie würde künftig nicht mehr allein im Mittelpunkt stehen. Nie wieder wollte ich wie ein gestrandeter Wal auf dem Rasen vorm Kanzleramt liegen und alkoholfreies Weizenbier kotzen.
Ist ja klar, sagen die Schnellen, der Achilles findet Zahlen doof, die beweisen, wie lahm er ist. Der will sich nicht quälen. Ein Weichei. Stimmt sogar. Ich freue mich für jeden, der seine Ziele erreicht. Aber was Ziele sind, das definiere ich noch selbst – und nicht McKinsey oder Excel oder ein labiler Trainer, der selbst kaum die Treppe zum Bierholen schafft. Soll über die wenigen Stunden meiner Freizeit der Ziffernterror herrschen?
Nein. Ich behalte meine Bestzeiten als Schatz in meiner persönlichen Truhe, so wie romantische Liebschaften, gute Schulnoten und all die anderen kleinen Erfolge. Lacht über mich, weil ich langsam bin. Aber ich freue mich, weil ich mich vom autoaggressiven Performen langsam verabschiede.
Wenn Ehrgeiz zur Krankheit wird
Ehrgeiz kann gut und böse sein.
Erik Thormann, Triathlontrainer
Es war einer dieser herrlich nutzlosen Tage zwischen den Jahren. Die Weihnachtsvöllerei ging nahtlos ins große Silvesterfressen über. Die Familie war längst im Bett, doch mein Ehrgeiz wollte nicht ruhen. »Bilanz!«, schrie er, und: »Siege!«. Jahresendtage sind die heikelsten im Leben eines Freizeitathleten. Der Ärger über all das Nicht-Geschaffte lassen die Vorhaben für die nächsten zwölf Monate noch gigantischer werden.
Wieder mal hatte ich meinen Jahresplan nicht bewältigt. Aus der großen Bergtour mit der Familie waren einige läppische Wanderungen geworden, die bei Wurstsalat auf der Hütte endeten. Auf dem Kajak hatte sich eine undurchdringliche Moosschicht gebildet, an meiner Hüfte ein schwammiger Ring. Die Abstinenzpläne waren natürlich auch gescheitert, ebenso wie das entschlossene Vorhaben, mit dem Kleinen mindestens einmal die Woche Wurftechniken zu üben. Von Laufresultaten ganz zu schweigen
Ich googelte durch die Veranstaltungskalender. Berliner Halbmarathon im April, der war Pflicht, um jene Angst zu erzeugen, die mich in den ersten zwölf grauen Wochen des Jahres ins Freie treiben würde. Dazu der Volkstriathlon Ende Juni. Zur Vorbereitung kommen 120 Kilometer Velothon gerade recht. Pfingsten natürlich Kanufahren mit den Freunden. Im Fitness-Studio
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