Bewegt Euch
und Namen mir unerwartet einfallen, von Glücks- und Stressmomenten mit meinen verstorbenen Eltern. Ich kann beim besten Willen keine inhaltlichen Muster in diesem nostalgischen Feuerwerk entdecken. Die Erinne rungen sind mal grau, mal bunt, mal lustig, mal ärgerlich, bisweilen dramatisch schmerzhaft. Das Bewegen hilft mir, Schutt wegzuräumen von alten Geschichten, die ich eher gefühlsmäßig durchlebe als systematisch durchdenke. Diese vielfach unzusammenhängenden Damals-Fetzen sind offenbar wichtig, weil sie durch mein Unterbewusstsein rumoren, aber ich weiß nicht genau, warum. Immerhin ist mir in diesen Momenten klar: Da ist etwas Mächtiges in mir, weniger bedrohlich als vielmehr hoch spannend. In ausdauernder Bewegung, und nur in ausdauernder Bewegung, komme ich diesem Innersten näher. Ob ich es nun »Verarbeiten« nenne, »Spiegeln«, »Durchleben« oder einfach »Sinnieren« – es ist immer Besinnung, das Befassen mit mir und meinen Wurzeln.
Ich scheine mit meiner Form des Gottesdienstes nicht allein zu sein. Der amerikanische Autor David Murrow erklärt in seinem Buch Warum Männer nicht zum Gottesdienst gehen , dass die Glaubensarbeit in der Gemeinde weiblich orientiert sei. »Ein Christentum, das auf Risikovermeidung abzielt, wird niemals Männer anziehen«, sagt Murrow, der daran erinnert, dass die Helden der Bibel richtige Kerle gewesen seien, die für die Frohe Botschaft litten und ihr Leben gaben.
Mehrere Studien der deutschen Kirche mit so bewegenden Titeln wie »Männer im Aufbruch« bestätigen, dass Jungs die Natur auch als Ort von Gotteserfahrung empfinden. Draußen fühlt sich der Mann als Teil des großen Ganzen, er erlebt Ehrfurcht und Demut. Kenne ich.
Frage an die Kirchenfunktionäre: Warum gibt es keine Lauf-Gottesdienste, wieso kommen die Geistlichen nicht in den Wald, der offenbar mehr Anziehungskraft entwickelt als die Holzbank in der Kirche? Mit Schwitzhütte und Barfußlaufen hat die Eso-Industrie der Kirche das Glaubenserlebnis in der Natur abspenstig gemacht.
Immerhin: Das Christen-Imperium bewegt sich, ob mit Gründonnerstagsmärschen durch die Nacht oder Rennrad-Wallfahrten nach Assisi. Wilfried Prior von der franziskanischen Bildungsstätte Haus Ohrbeck hat die Erfahrung gemacht, dass selbst harte Kerle durchaus zum Beten zu bewegen sind, wenn sie sich vorher ein paar Stunden richtig müde gestrampelt haben.
Die Parallelen von Beten und Bewegen sind verblüffend. Zusammen mit evangelischen Theologen haben Forscher am Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft der Deutschen Sporthochschule herausgefunden, dass es bei Betenden wie bei Laufenden zu psychophysiologischen Entspannungsprozessen kommt, die dicht am legendären Flow liegen, jenem wundersamen Zustand des konzentrierten Abschaltens. Das Gebet habe eine körperliche Dimension, so Forschungsleiter Dr. Stefan Schneider, aber es gilt auch andersherum: Gleichförmiges Bewegen hat messbare Wirkungen auf Geist und Seele.
Zu den großartigen Paradoxien des Bewegens gehört, dass die Dynamik zugleich eine stabile Schutzhülle bieten kann.
»Laufen ist keine Religion, es ist ein Ort«, hat der Läufer, Arzt und Philosoph George Sheehan einst geschrieben. Sheehan erzählt gern die Geschichte eines Mannes, der im Kloster nach Ruhe suchte. Am Ende seiner Einkehr fürchtete er, dass draußen alles so weitergehen würde wie bisher. Von Veränderung keine Spur.
Der Abt des Klosters riet: »Sie müssen sich 90 Minuten täglich Zeit zum Beten nehmen.« Solange er jeden Tag diese Zeit aufbringe, würde er die Verbindung zum Kloster halten. Sheehan hat diese Technik für sich übersetzt: Sein Kloster ist der tägliche Lauf als »ein Ort, an dem man mit Gott und mit sich selbst in Verbindung tritt, ein Ort, um seelisch aufzutanken«.
Das Bild von der inneren Kirche ist großartig. So bekommt das Bewegen eine tiefere Dimension abseits von Stoppuhren. Diesen Ort kann der Mensch überall und jederzeit aufsuchen, er findet Konzentration und damit zu sich selbst. Dr. Warren A. Kay ( Meditieren mit Laufschuhen ) empfiehlt sogar, sich ein kleines Ritual vor jedem Start zu überlegen, es muss ja nicht gleich ein Bekreuzigen sein. Ich habe mir einen Stapel von Kärtchen zusammengestellt, jedes mit einem originellen Spruch. Gelegentlich ziehe ich wie beim 17 & 4 eine Karte und nehme den Spruch als Denksportaufgabe mit. Es kommt vor, dass ich den Text nach 500 Metern vergessen habe. Egal. Der Versuch zählt. Nächstes Mal wieder.
Die
Weitere Kostenlose Bücher