Bewegt Euch
wichtigste Funktion des versunkenen Bewegens ist die Abkehr vom Leistungsfetischismus. »Mens sana in corpore sano« – so lautet das philosophisch-athletische Ideal aus der Antike, als es keine Pulsmessgurte gab. »Sei freundlich zu deinem Leib, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen«, soll die Mystikerin Teresa von Avila im 16. Jahrhundert festgestellt haben. Die Erkenntnis gilt bis heute. Von ständiger Beschleunigung war nie die Rede.
Die antiken Olympischen Spiele glichen einer religiösen Feier. Citius, altius, fortius kam erst später. Der erste olympische Wett bewerb war ein Lauf über die Stadionlänge von 196 Metern, bis zum Altar. Der Sieger durfte das Feuer entzünden. Der mo derne Olympismus bedient sich ungehemmt der alten Rituale, nur heute mit Sponsoren und Rekordwahn.
Spirituelles Bewegen wird weltweit gepflegt, etwa bei den Tendai-Mönchen am Berg Hiei in der Nähe von Kyoto. Seit Jahrhunderten wird hier der »Tausend-Tage-Marathon« praktiziert als Teil der Ausbildung. Innerhalb von sieben Jahren laufen die jungen Mönche an insgesamt tausend Pilgertagen einen Marathon, bisweilen auch zwei, nicht im Wellness-Modus, sondern zügig, nicht auf modernen Luftpolstersohlen, sondern in selbst gebauten Sandalen. Der Lauf wird nachts absolviert, tags werden die klösterlichen Pflichten erledigt. Am Ende steht »doiri«, die Konfrontation mit dem Tod: Neun Tage wird gefastet, um auch die letzten Reserven aus den Männern zu pressen. Auf die Frage, was er empfinde, antwortete ein Mönch: »Dankbarkeit«.
Aus purer Not entstand der Lung-Gom-Pa-Lauf in Tibet. Es gab weder Telefon noch Straßen, also entwickelten die Mönche der abgelegenen Klöster ihre läuferischen Künste so weit, dass sie während des Laufens in eine Art Trance verfielen, die sie Schmerzen und Erschöpfung vergessen ließ. Sie laufen angeblich auch nachts sicher über Felsen und Gletscher, haben aber möglicherweise zugleich etwas vom Yeti. Denn kaum jemand hat diese Wunderathleten je zu Gesicht bekommen.
Lung-Gom-Pa-Läufer dürfen nicht angesprochen werden, da sie sonst aus ihrer Trance erwachen. Dem Lauf soll ein langes meditatives Aufwärmen vorausgehen, das die Chakren aktiviert, jene Energiezentren, die laut buddhistischer Lehre den Körper steuern. Dem Atmen kommt dabei größte Aufmerksam keit zu. Eine Wellness-Kultur, die anstrengungslose Spiritualität übers Wochenende verspricht, ist von den Laufmönchen so weit entfernt wie das Christentum von Scientology.
Bewegen schafft offenbar einen Zugang zu tieferen Dimensio nen des Seins. Frank Hofmann, Chefredakteur der deutschen Runner’s World , glaubt sogar, dass sich der »Marathon zu Gott« nach Trainingsplan absolvieren lässt. Das klappt bestimmt bei manchen Zeitgenossen. Bei mir nicht. Ich bin eher Zufallsbeter. Je verbissener ich suche, desto unwahrscheinlicher wird ein Treffen mit dem Chef da oben. Zumal ich kaum zu jenen Auserwählten gehöre, die unter dauernder Beobachtung stehen. Ich bin ein ziemlicher Durchschnittskunde, weder Reformer noch Renegat, das klassische Glaubensschaf. Ein bisschen Besinnung beim Bewegen, eine Spur der Läuterung, das reicht mir vollauf.
Meine erschreckendste und zugleich schönste spirituelle Erkenntnis lautet: Steuerungsfantasien vergessen. Ich bin nichts, ein Wurm, ein Spielball der Umstände. Jeder Start bedeutet ein neues Experiment mit ungewissem Ausgang, so wie das ganze Leben. Wenn ich mich bewege, begebe ich mich in die Hände des Schicksals. Ob ich gut geschlafen habe, wochenlang asketisch darbte, ob ich artig Pläne abarbeitete oder mir die beste Musik auf die Ohren gegeben habe – es sind alles nur Bausteine, von denen am Anfang nie klar ist, ob sie zusammenpassen.
Der zickige Körper, die Psyche, das Wetter, die Menschen drum herum ergeben ein hoch kompliziertes Geflecht, das mich Demut lehrt vor der unendlichen Macht des Zufalls. Ich bin gescheitert bei dem Versuch, einen sicheren Weg zu Wohlbefinden und Erfolg zu definieren. Wenn mir der Sport etwas beigebracht hat, dann Offenheit und Neugier auf das, was heute kommt.
Das Ziel jeder Meditation, des Gebets, der perfekten Yogastunde ist das gleiche: Leere, Abschalten, Treibenlassen im ewigen Strom, den wir Leben nennen. Dem Willen zum Steuern einfach nicht nachgeben. Und Abschied von der Idee, es ließe sich Glück erzwingen.
Das Glück des Zufalls
Ja, ja, die kleinen Glücke – ob wir sie wahrnehmen? Sie sind oft so unscheinbar und tun doch so gut.
Leo Mosses,
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