Bewegt Euch
ideale Kohlenhydratspender. Als Zeichen meiner Kampfbereitschaft wählte ich ein Nichts von einem Outfit. Keine Sonnenbrille, kein Stirnband, keine Verpflegung, schon gar keine Musik oder Wasserflaschen.
Normalerweise mache ich allerlei schlechte Scherze am Start, um Heiterkeit vorzutäuschen, während Panik durch meine Gedärme wühlt. Diesmal schwieg ich und lief mich locker ein. Ich suchte mir einen Startplatz weit vorn, um nicht Heere von Stockschleichen durchqueren zu müssen. Ich nullte meine Uhr. Locker, Junge, total locker.
Startschuss. Der klassischste aller Fehler ist der Turbostart. Seitenstechen bei 800 Metern ist ein Indiz, dass der Athlet im Überschwang überpaced hat. Aber ich nicht. 4:15 Minuten, das war zwar irre schnell für mich, aber noch knapp im Bereich, den man Leben nannte. Ich rannte mich ein, wurde etwas langsamer, lag aber hochgerechnet immer etwa 20 Sekunden unter der 45-Minuten-Marke. Interessante Erfahrung: Es gibt eine Schwelle zwischen Gerade-noch- und Gar-nicht-mehr-Können. Die Kunst besteht darin, die Drehzahl des Körpermotors exakt in diesem Bereich zu halten, der zwar Kurzatmigkeit bedeutet und schmerzhaft ist, aber auszuhalten.
Bei Kilometer 5 gab es Wasser. Ich griff zwei Flaschen, eine auf, die andere in den Kopf. Beine brannten. Ich lag gut in der Zeit. Aber eigentlich wollte ich nicht mehr. Noch mal so viel? Auweia. Warum sich weiter quälen?
Während ich grübelte, mit welcher Ausrede ich mich der Plackerei entziehen konnte, zog ein magerer Jüngling an mir vorbei, in Zeitlupe. Er sah wie ein Holländer aus, vielleicht auch ein Brite oder Ire, jedenfalls das pferdeähnliche Profil des furchtlosen Küstenmenschen. Er warf mir einen Blick zu, der alles Mögliche bedeuten konnte. Ich interpretierte ihn als Aufforderung: Los jetzt, komm mit. Wir ziehen das Ding jetzt gemeinsam durch.
Keine Ahnung, ob das wirklich seine Botschaft war. Aber mein innerer Achim wollte diesen Sekundensplitter, da sich unsere Augen begegneten, als Pakt interpretieren: Ein Team für 20 Minuten. Ich heftete mich an seine Fersen, im festen Glauben, nach 300 Metern einzubrechen. Ich blickte auf die Uhr. Das Tempo war perfekt. Der junge Mann, obgleich er mein Sohn hätte sein können und 20 Kilogramm weniger wog, hielt exakt jene Geschwindigkeit, die ich gerade mitzuhalten imstande war. Jetzt locker bleiben.
Die Frage nach dem »Wie lange?« einfach wegschieben. Stattdessen überlegen: Was erwartete mein pferdegesichtiger Freund von mir? Das ungeschriebene Gesetz lautet: Wer gemeinsam etwas zustande bringen will, wechselt sich ab mit der Führungsarbeit. Es ist nun mal einfacher, hinter einem Schrittmacher herzudackeln. Weil ich über den cw-Wert eines Plattenbaus verfüge, gelte ich übrigens als idealer Windschattengeber.
Wir waren auf dem Weg zur 7-Kilometer-Marke, als mich mein schlechtes Gewissen endlich nach vorn trieb. Du kannst hier nicht nur hinterherhecheln, dachte ich. Du musst ihm eine Pause verschaffen! Gute Idee, moralisch gesehen. Muskulär allerdings ein verwegenes Unterfangen. Ich konnte schon lange nicht mehr. Aber es war eine Frage der Ehre. Also gut. Blutleere im Hirn erleichterte mir die Entscheidung. Ich setzte mich mit zehn, zwölf verzweifelten Schritten an die Spitze. Pferdegesicht sollte meinen guten Willen spüren. Ein Freundschaftsdienst. Leider hatte mich das Überholen so viel meiner kaum mehr vorhandenen Kraft gekostet, dass ich offenbar deutlich langsamer wurde.
Es mochten 200 Meter sein, die mein magerer Begleiter das Trauerspiel ertrug. Dann übernahm das Pferd wieder die Führung. Seine Hand hatte beim Überholen leicht gewedelt, als wolle sie sagen: Lass mal gut sein, Alterchen. Du bist mir nichts schuldig.
Ich schaute auf die Uhr. Wenn wir so weiterrannten, würde ich unter 44 Minuten bleiben. Am liebsten wäre ich sofort stehen geblieben, voller Selbstzweifel. Diese Leistung konnte nicht von mir sein. Oder doch? Machte dieser One-Run-Stand mit einem Ungekannten tatsächlich so viel aus? Womöglich war ich ihm gerade recht gekommen. Er brauchte keinen Zugläufer, sondern heißen Atem im Nacken. Er zog mich, ich schob ihn – das Glück des Zufalls.
Faszinierend, wie sich zwei Menschen im Moment höchster Anstrengung mit sparsamsten Gesten verstehen. Es gab keinerlei Barrieren zwischen uns, sprechen konnten wir eh nicht mehr. Jeder wusste, wie sich der andere fühlte. Unsere Bewegungen verliefen synchron, obwohl wir uns nie zuvor gesehen hatten. Perfekte
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