Bewegt Euch
vierzig Jahren im Sattel. Die Sicht aufs Leben verändert sich schlagartig, manchmal in Sekunden.
Ich komme mir vor wie Schlachthofabfall, als ich ins Ziel in Lübben rolle. Sportskameraden schauen mich entsetzt an: Hose und Hemd zerrissen, Ellenbogen, Knie und Knöchel aufgeschürft, die rechte Hand ein Blut- und Schmutzklumpen.
Die Johanniter unterbrechen wortlos ihre Mittagspause. Geübt sprühen sie Desinfektionsmittel in die schleimigen Abgründe aus Körpersabber und Straßendreck. Ich jaule. Churchill wäre stolz auf mich gewesen: Blut, Schweiß und Tränen gleichzeitig. Die Sanitäter halten mich für ein Weichei. Wessi halt.
Ich hatte immer noch nicht genau kapiert, was eigentlich passiert war. Vor knapp zwei Stunden hatte ich mich so richtig auf die Schnauze gelegt. Aber es kam mir vor, als sei es hundert Jahre her. Es hatte mir tatsächlich gut getan, die restlichen 60 Kilometer bis ins Ziel zu fahren. Verdrängen und Verarbeiten durch stoisches Weiterbewegen. Alles brannte. Aber ich hatte zu tun, musste Ängste überwinden, Kälte und Übelkeit verscheuchen, durchhalten. Für den Kopf ist das selbstständig erreichte Ziel womöglich hilfreicher als ab- und auszusteigen. Sachen zu Ende bringen fühlt sich gut an.
Faszinierend, was dieses Adrenalin alles hinkriegt. Ich hatte in den zwei Stunden auf dem Rad kaum etwas von meinen Abschürfungen gespürt. Jetzt, auf der schmalen Bank vorm Sanitätszelt, kam alles auf einmal: Müdigkeit, Benommenheit, irrsinniges Brennen überall, stechender Schmerz in der Schulter, ein brutaler Druck in der unteren hinteren Rippengegend, dort, wo ich auf meinen eigenen Ellenbogen geprallt war.
Waren da ernsthafte Schäden, Brüche, Quetschungen, etwas Bleibendes oder gar Lebensbedrohliches? War mir schlecht, weil ich eine Gehirnerschütterung hatte oder weil ich meine eigenen blutigen Hautlappen nicht sehen konnte? Meine treuen Gefährten holen unablässig frisches Radler, checken, ob ich mit dem Auto allein heimfahren kann. Erste schlechte Witze. Gutes Zeichen.
Das Schlimmste an diesem verdammten Sturz ist gleichzeitig das Beste: Mein Unverwundbarkeits-Mythos war zerstört. Die Vorsicht, die ich bei anderen oft verlachte, war plötzlich zurückgekehrt. Seit Jahren war ich mal mit, aber oft auch ohne Helm gefahren. Ich hielt mich für einen bombensicheren Lenkerpiloten. Doof waren die anderen. Leider arroganter Quatsch.
Eine Sekunde kann das Leben verändern, dieses erschütternde »Baff«, als mein behelmter Schädel auf den Asphalt prallte und die ganze Welt für einen Moment wackelte. Immer wieder kommt dieser Kurzfilm, seltener zwar als in den Stunden nach dem Sturz, aber viel zu häufig, als dass ich diesen Moment einfach abschütteln könnte. Man muss ja nicht gleich dramatisieren, aber: Es gibt Sportsfreunde genug, die mindestens so sicher auf dem Rad sitzen wie ich und üble Schäden behalten haben.
Abends bei Günther Jauch ist Samuel Koch zu Gast, der junge Mann, der seit seinem Sprung bei Wetten, dass …? im Rollstuhl sitzt. Ich habe verdammtes Glück gehabt. Eine Leitplanke hätte genügt, mich kaputtzumachen. Alle Schutzengel Brandenburgs standen über mir in diesem einen Moment. Das war kein Spaß, keine Mutprobe, kein lässlicher Ausrutscher, sondern einer jener Momente, die Leben verändern.
Eine Woche später fallen die ersten Krusten ab. Meine Rippenprellung erlaubt erste vorsichtige Schwimmversuche. Selten so dankbar gewesen, mich bewegen zu dürfen. Aufmerksamkeit ist zurückgekehrt, Vorsicht, Konzentration. Demut lernt man halt nicht im Alltag, sondern in Stresssituationen. Es gibt Glück, das in der Abwesenheit von Unglück besteht. Davon habe ich ein gehöriges Maß geschenkt bekommen.
Zwei Schalen
Es war im Jahr 2008, als mich das Angebot einer Reisezeitschrift erreichte: Drei Wochen lang würde ich ein Wohnmobil gestellt bekommen, dafür musste ich eine zartfühlende Reportage abliefern über »Wohnmobilferien in Schweden – ein Spaß für die ganze Familie«.
Die Familie freute sich tatsächlich. »Wohnmobil!«, jubelten die Jungs. »Schweden!«, tirilierte die Gattin. »Na gut«, sagte ich, ohne größere Euphorie. Denn ein Detail stimmte schon mal nicht, wie ich bald feststellte: »ganze Familie«. Der Fahrer hat keinen Spaß, sondern nackte Angst. Wer bislang Personenkraftfahrzeuge steuerte, ist mit diesen rollenden Dickschiffen zunächst heillos überfordert.
Immerhin: Die Kiste war groß genug, dass ich mein Rennrad spielend
Weitere Kostenlose Bücher