Bewegt Euch
Partner, jedenfalls in diesem Moment.
Es ist paradox, aber wahr: Ich kann solche Momente des gemeinsamen Anstrengens genießen. Obwohl gefangen in einem Körper, der kaum noch kann, verspüre ich grenzenlose Freiheit, die Freiheit maximaler Reduktion. Alles, was sonst wichtig scheint im Leben, ist verschwunden. Der eine schneuzt, der andere sabbert, die Klamotten hängen klitschnass am Leib – egal. Zwei sind eins, vereint im nutzlosen Ziel, zehn Kilometer unter 45 Minuten zurücklegen zu wollen. Irres Glück.
Bei Kilometer 9 hat mein Freund, das Pferd, noch mal beschleunigt. Langsam, fast rücksichtsvoll, zog er an. Ich bin mir sicher, er hoffte, ich würde mithalten. Konnte ich aber nicht. Ich ließ ihn ziehen, leichten und schweren Herzens zugleich. Die letzten 700 Meter waren die härtesten. Ich wollte nicht langsamer werden, wurde es aber.
Immerhin: Ich bin unter 45 Minuten geblieben, zum ersten und einzigen und wahrscheinlich letzten Mal in meinem Leben. Ich habe im Ziel nach meinem Kurzzeit-Freund gesucht, vergeblich. Wir hätten ohnehin nicht viel geredet. Vielleicht ein Händedruck, eine schnelle verschwitzte Umarmung. Besser so. Große Momente muss man einfach auch mal stehen lassen.
Der Sturz
Der Film, immer wieder dieser Film: Mein Vorderreifen berührt um ein paar Millimeter das rotierende Hinterrad meines Vordermannes. Wir preschen zu viert mit Tempo 40 hintereinander weg durch den Brandenburger Frühling. Ältere Herren spielen das Mannschaftszeitfahren bei der Tour de France nach. Die Räder sirren, wir liegen geduckt über den Lenkern. Es ist die erste große Ausfahrt des Jahres, der Spreewaldmarathon. Endlich wieder auf der Rennmaschine. Herrlich.
Meine Gedanken sind für einen Moment davongeflogen. Plötzlich diese Berührung der Reifen. Ich halte mit meinem Lenker dagegen. Mein Vordermann tritt einen halben Schlag schneller. Auf einmal drücke ich ins Leere, viel zu stark, verreiße den Lenker. Er schlägt um. Das Rad schleudert. Kontrolle weg. Oben ist unten. Und dann dieser Film, seitdem hundert Mal gesehen: Baff – mein Kopf prallt derbe auf den Asphalt. Ich erwarte einen matschigen Aufprall. Alles wackelt. Aber der Helm hält mir die Straße vom Schädel.
Ich verliere die Orientierung, zum Glück nicht das Bewusstsein. Hart gelandet. Ich rappele mich sofort auf. Blut strömt von meiner rechten Hand. Ich bin benommen, meine drei Gefährten sind längst außer Sichtweite. Es staubt um mich herum. Wer bin ich? Wo bin ich? Was war das? Totale Einsamkeit, Hilflosigkeit, Flasche leer.
Vorsichtige erste Körperkontrolle. Alles tut weh. Das ganze System ist erschüttert. Schock. Die linke Seite aufgerissen, Blut und Staub und Fetzen von Haut und Textil. Aber die Knochen fühlen sich heil an. Atmen geht. Herz pocht. Maschine läuft.
Endlich ein erster klarer Gedanke: Lieber Gott, vielen Dank. Es war keiner hinter mir, den ich hätte mitreißen können. Keine Leitplanke, kein Bordstein, kein Auto, kein Straßenschild, kein hartes Irgendwas, das mir den Hals hätte brechen können. Selten so dankbar für Brandenburger Staub gewesen. Der Helm, obgleich schlampig eingestellt, hat gehalten. Brillentrümmer haben sich nicht in meine Augäpfel gebohrt. Alle Zähne drin.
Zum ersten Mal kehrt der Film zurück: Die Reifen touchieren, das Baff – mein Kopf prallt auf den Asphalt. Alles wackelt. Danke, Helm, du lästiges tolles Ding aus ein bisschen Plastikschaum. Ich inspiziere das Rad. Keine Ahnung, ob Gabel, Vorbau, Rahmen angeschlagen sind. Die Laufräder drehen sich, als sei nichts geschehen. Die Schaltung funktioniert. Es mögen zwanzig, dreißig Rennradler an mir vorbeigeprescht sein seit dem Sturz. »Alles okay«, habe ich gerufen, ohne zu wissen, ob das stimmt.
Ich steige auf. Das Klicken der Pedale. Blut tropft von der Hand über den Lenker in die Speichen. Langsames Antreten. Zurück auf die Straße. Hier ist keiner, der hilft. Noch 60 Kilometer bis ins Ziel nach Lübben. Ich muss da jetzt durch. Therapeutisches Kurbeln. Den Schock aus den Knochen strampeln. Die monotone Bewegung tut weh, aber gut. Adrenalin ist stärker als Schmerz. Wunderdroge. Und wieder der Film: Reifen, baff, Asphalt, alles wackelt.
Ich hänge mich an eine Gruppe, die vorbeischießt, in gemessenem Abstand zum Hinterrad des Vordermannes. Unbekannte neue Angst beim Fahren in der Gruppe. Ich würde gern irgendwen verfluchen, jemanden, der schuld ist am Crash. Aber da gibt es nur einen: mich. Einfach gepennt, nach über
Weitere Kostenlose Bücher