Bewegt Euch
Laktat in meinen Waden auf. Bei 200 Metern zeigte die Uhr 45 Sekunden. Ich war nicht viel langsamer geworden, sondern hatte die am Start ermogelten Bruchteile einzurechnen.
Ich lauschte meiner Lunge. Eigentlich alles im hellroten Bereich, jener Zone, in der die Selbstüberwindung noch nicht ganz so gefragt ist. Ich erwartete eine Zeit um die 70 Sekunden bei 300 Metern. Doch es waren nur 68. Teufel. Gefühlt war ich langsamer geworden, real aber hatte ich mein Tempo gehalten. Hektisches Rechnen: 10 x 23, das machte eine Endzeit von 3:50 Minuten – mein neuer persönlicher Weltrekord.
»Ist doch egal«, maulte der Achim in mir, »kannst auch ruhiger machen.« Wir bewegten uns nun in der Zone, wo der Körper aufhören würde, wäre da nicht der Kopf, der ihn treibt. Ich dachte nur: »Klappe.« Das Brennen in den Beinen nahm zu. Ich erinnerte mich an die Macht der Arme. Wer seine oberen Extremitäten wie Pleuelstangen bewegt, der treibt die Beine an. 91 Sekunden nach einer Runde. Ich war auf Kurs.
In 100 Metern würde ich eine Entscheidung treffen: Sollte ich in der verflixten zweiten Hälfte alles geben, auf die Bahn speien, sogar Blut, in Erstickungsanfällen vergehen? War ich bereit, an die Kotzgrenze zu gehen und noch weiter? 1:53 Minuten zeigte die Uhr auf der Hälfte. Vielleicht hatte ich etwas zu früh geguckt, aber die Botschaft blieb gleich: Ich konnte unter 3:50 Minuten bleiben, wenn ich einfach nur dieses Tempo hielte. Leider konnte ich schon jetzt nicht mehr. Die ersten unsauberen Schritte schlichen sich ein, keine richtigen Stolperer, eher Schleifschritte, sicheres Zeichen jedenfalls, dass die Schenkel nicht mehr mochten.
Genau jetzt beginnt der Trainingseffekt, zeitgleich mit anschwellender Selbstüberwindung. 2:17 Minuten bei 600 Metern – ich war langsamer geworden. Kein Wunder: Ich war ja auch fertig. Kein Mensch würde mitkriegen, wenn ich jetzt austrudeln und auf den Rasen fallen würde. 1:53 auf 500 sind auch eine schöne Sache. Ich begann zu röcheln. Jedes Ausatmen geriet zum Prusten. Ich saugte die Luft ein, um sie gleich wieder von mir zu geben.
2:42 Minuten bei 700 Metern. Verdammt. Ich brach ein. Ich wollte das nicht. Aber ich konnte nicht anders. 78 Sekunden bis zur 4-Minuten-Marke, das bedeutete 26 Sekunden auf den letzten je 100 Metern. Kein Sauerstoff mehr im Hirn. Aber diese Rechnungen gehen auch noch, wenn ich schon tot bin. Ich riss die Knie empor, die Arme rackerten wie irre.
3:04 Minuten und nur noch 200 Meter. Ich hatte beschleunigt. Aber zugleich mein letztes Pulver verschossen. Jetzt müsste eigentlich der Schlusssprint beginnen. Aber meine Beine stolperten unkoordiniert. Ich konnte nicht mehr denken, Atemnot in jeder Zelle. Bei 900 Metern schaffte ich es nicht, noch einmal auf die Uhr zu schauen. Mein Magen drückte seinen Inhalt nach oben. Ich beschimpfte mich als Lusche, Weichei, Lahmarsch. Die verdammte Linie wollte nicht näherkommen, nie waren 100 Meter länger.
»Du wirst überleben«, schoss es mir vielleicht 20 Meter vor dem Ziel plötzlich durch den Kopf. Komischer Gedanke. Aber eigentlich folgerichtig. Ich bewegte mich seit zwei Minuten in einem Bereich zwischen Leben und Sterben. Nur eine Sekunde mehr und ich würde würgend explodieren. Luft. Leben. Zukunft. Ich hatte die Uhr exakt auf der Linie gedrückt, eventuell sogar eine Zehntelsekunde später. Unglaubliche 3 Minuten und 47 Sekunden standen da.
Ich fiel auf die Bahn. Zehn Atemzüge lang dauerte die Nahtoderfahrung. Langsam kam die Luft zurück. Ich blickte wieder auf die Uhr. Tatsächlich. Es war kein Sprint-Delirium. 3 Minuten und 47 Sekunden. Der Weltrekord lag 95 Sekunden darunter. Na und. Ich war so schnell gewesen wie nie zuvor. Vor allem hatte ich mich überwunden, und wie. An die letzten 300 Meter konnte ich mich kaum noch erinnern, außer an das Brennen. Und diesen völlig bekloppten Willen, den Körper einfach zu ignorieren. Die Zeit war das eine, das messbare Resultat, und es malte mir ein irres Grinsen aufs Gesicht. Aber die Selbstüberwindung war die viel nachhaltigere Erfahrung. »Geht doch«, dachte ich fröhlich und blickte mich um, ob auf den Weiten des Sportplatzes jemand stehen geblieben war, um mein furioses Finish zu beklatschen. Natürlich hatte kein Schwein geguckt. Warum auch. Objektiv hatte ich nichts Großes vollbracht. Subjektiv aber hatte ich einen gigantischen Triumph erlebt, den Sieg über mich. Welchen Sinn diese 227 Sekunden hatten? Sie sind mir im Gedächtnis geblieben. Sie
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