Bewegt Euch
anstapfen. Kann ich jeden Tag haben, in Grunewald, Tiergarten oder Volkspark. Ist auch befreiend. Vor allem, wenn’s vorbei ist. Dieses Gefühl, was durchgestanden zu haben. Mit dir. Gegen dich. Diese Momente schweißen Achim und mich zusammen.
Der Großstadtmensch kennt Wetter ja überwiegend aus einer Fernseher-Perspektive. Immer ist eine Scheibe dazwischen. Die Traute, sich Wetter auch mal auszusetzen, ist völlig verloren gegangen. Immer Nummer sicher. Für die paar Meter durch den Regen zum Auto brauchen wir den XL-Schirm. Den Wind, der die Zeitung wegpustet, würden wir am liebsten verklagen. Eiskratzen fühlt sich an wie Stalingrad.
In der komplett überdachten City lässt sich das Leben mit täglich maximal zwei Minuten Wetterkonfrontation organisieren. Nass werden scheint eines der größten Probleme des modernen Menschen. Frisur, Cashmere, die neuen Schuhe – alles ist wichtiger, als der Natur zu trotzen.
In Wirklichkeit reinigt der Regen. Katharsis. Zentralproblem ist das Anfangen. Dieser Moment, wenn sich die Tür einen Spalt weit öffnet, die ersten Spritzer aufs Bein schlagen, wenn ein übermenschlicher Impuls gefragt ist, den Körper vom Sitz hinein ins prasselnde Inferno zu schieben. Selbst modernste Mikrofaser kann diesen ekligen Moment nicht verhindern, wenn Tropfen wie Schrotkugeln auf die Haut prallen und der Wind gleich hinterherfährt durch Tausende frisch geschossener feuchter Kanäle, um ein autowarmes Wesen in fröstelndes Elend zu verwandeln.
Ich mag nicht. Der Radiobeitrag über Tibet ist zu Ende. Jetzt wollte ich eigentlich aussteigen. Blick auf die Uhr. Seit über einer Viertelstunde sitze ich hier schon. Bald lohnt sich die Lauferei gar nicht mehr. Dann wäre ich weder gelaufen, hätte auch nicht in Ruhe gefrühstückt, sondern die ganze Zeit auf der Stelle herumgedacht.
Ist doch albern. Ich fahr’ jetzt. Die rechte Hand strebt Richtung Zündschlüssel. Vielleicht heute Abend, fantasiere ich, obwohl ich genau weiß, dass es die nächsten Tage keine Möglichkeit mehr geben wird. Sich Lauftermine herbeizulügen, die es gar nicht gibt, gehört zu den größten Unarten des Läufers.
Sonntagabends die kommende Woche durchgehen und fünf Trainingstermine planen. Einmal morgens um halb sieben, einmal abends nach acht und einmal in der Mittagspause. Super. Realität trifft Wunschdenken. Wenn aus den fünf gedachten zwei echte Läufe geworden sind, war es keine schlechte Woche. Man nimmt sich ja so viel vor: Blumen, ein nettes Wort, ein Lächeln, Laufen.
Sind wir mal ehrlich: Ich habe nur diese Chance, jetzt, hier, heute, sofort, die einzige der ganzen Woche.
Aber ich habe keine Lust. Verdammte Prokrastination. Aufschieben, immer alles zu immer größeren Haufen aufschieben, bis das ganze Leben nur noch aus Endmoränen besteht, die den Blick verstellen und die Wege. Laufen ist Befreien. Manchmal.
Palim, palim. Das Handy vibriert. Jemand aus dem Büro ruft an. Wenn ich jetzt drangehe, ist alles zu spät. Irgendein irrsinniger Expressauftrag wird mich ereilen. Wäre ich losgelaufen, wüsste ich gar nicht, dass das Telefon überhaupt geklingelt hätte. Und der Anrufer hätte sich anders beholfen.
Wenn ich jetzt, genau jetzt, loslaufe, dann könnte ich mir und dem Rest der Welt zumindest glaubhaft erklären, warum ich nicht ans Telefon gehe. Aber im Auto sitzen, so zu tun als laufe man und dennoch nicht drangehen – das ist der Gipfel von Selbst- und Fremdbeschiss.
Soll ich? Der Regen scheint nachzulassen. Radio ausmachen. Tief einatmen. Die Beine fühlen sich schwer an heute. Der sichtbare Flecken Autositz zwischen meinen Beinen trägt hässliche Zackenlinien. Sieht aus wie Schweiß. Ist aber auch Regen und Waldschmutz, der sich auf dem Polster die letzten Jahre abgelagert hat. Das Handtuch saugt eben nicht alles auf. Beim nächsten Mal Leder, so viel ist klar.
Die Linke sucht den Hebel in der Tür. Ein letztes Mal den Plan durchgehen: Tür auf, zügig raus, damit es nicht reinregnet, Tür zu, verriegeln, Schlüssel in die hintere Reißverschlusstasche, zügig los, die ersten drei Minuten das Hirn auf Auto pilot, am besten singen, irgendwas von den Marines wie »He-Ho Captain Jack«.
Schluss jetzt mit dem inneren Gelaber. Entschlossenheit. Tür tatsächlich auf. Regen drückt in den Innenraum. Raus mit dem ersten Fuß. Platsch. Pfütze. War klar. Noch keinen Meter gelaufen, aber nass bis auf die Hornhaut. Scheißegal. Zweiter Fuß raus. Tür zu. Schlüssel verstauen. Wer je den
Weitere Kostenlose Bücher