Bewegt Euch
Autoschlüssel im Wald verloren hat, der weiß, was Leiden heißt, vor allem im Herbstregen, wenn Geld und Handy und Hausschlüssel im Auto liegen.
Den Reißverschluss bis unter die Nase zerren, ohne zarte Halshaut einzuklemmen. Der Weg ist abschüssig, rutschig, ich bin viel zu schnell unterwegs, weil ich der Kälte wegrennen will. Inneres Singen. Marines klappt nicht. Aber Jack Sparrow, Soundtrack zu Fluch der Karibik . Der geht immer.
Die Brust ist nass, das Haar, die Beine. Körperwärme kämpft gegen Regenkälte, ringt der unwirtlichen Welt Zehntelgrad um Zehntelgrad ab. Der Wald ist leer. Nicht mal die unentwegten Hundeführer. Edelste Einsamkeit. Alle kneifen. Nur ich nicht.
Es ist so fürchterlich banal. Einfach loslaufen und sich freuen. Je bescheidener das Wetter, desto größer der Triumph. Es gibt keine falsche Temperatur. Schweiß und Regen vermischen sich zu halb kühlen Rinnsalen, die links und rechts der Nase hinab und über die Oberlippe laufen. Schmeckt salzig. Bestimmt isotonisch. An den Beinen kleben zwei Pfund Modder, Walddreck, Blätter, Ahornpropeller. Die Schuhe waren mal gelb, die Socken weiß. Miele macht das.
Wenn alles nass und dreckig ist, herrscht dieser wundersame Zustand von Freiheit. In Problemfilmen stehen die Helden immer unter der Dusche, wenn sie sich reinwaschen wollen. Regenlaufen hat den gleichen, wenn auch weniger dramatischen Effekt. Wie Sex. Der ist auch immer gut, wenn keiner dran denkt, ob die Frisur sitzt.
Der verregnete Wald kommt einer gewaltigen Waschanlage gleich. Immer wieder dringt frisches Wasser bis auf die Haut und reagiert am Körper. Zischt. Kühlt. Erfrischt. Läuft runter. Da tropft was ab. Ich johle ein bisschen. Nichts ist peinlich, nicht mal ich mir selbst. Das ist selten. Ich kann schreien, lachen, fluchen, singen und durch Pfützen platschen. Das Verrückteste: Ich will nicht aufhören. Weil Gehen Frieren bedeutet. Ich muss mich bewegen, ob ich will oder nicht.
Faszinierend, wie man sich in einer unwirtlichen Lage einrichten kann. Würde ich unter einem Baum Schutz suchen, wäre ich nach fünf Minuten erfroren. Ein Schirm wäre bald Beute des Windes. Allein Bewegen bietet ein erträgliches Dasein. Die Bewegung schafft Wärme und Härtestolz. 45 Minuten fühlen sich an wie drei Ewigkeiten.
Das Auto steht unbewegt. Panischer Griff nach hinten. Der Schlüssel klebt noch da. Handtuch auf den Sitz, trotzdem wird sich morgen eine weitere Linie durchs Polster ziehen, mein Nachweis von Überwindung. Für andere Menschen bedeutet sie Ekel. Für mich pures Glück.
Seepferdchen
Was Schulbildung wert ist, stellt sich heraus, wenn das Gelernte im richtigen Leben mal gebraucht wird. Schwimmen zum Beispiel. Unser Sportlehrer verstand unter Pädagogik, dass in jeder Schwimmstunde um die Wette gekrault wurde, mit Stoppuhrkontrolle. Wer kraulen konnte, weil er es gelernt hatte, der bekam eine Eins. Die anderen verprügelten das Wasser mehr oder weniger effektiv, woran der Lehrer nichts zu ändern gedachte. Ich bekam meistens eine Drei, was ich ungerecht fand. Ich hatte alles genauso gemacht, wie ich es bei Mark Spitz im Fernsehen gesehen hatte. Offenbar aber gab es noch Tricks. So sehr ich mich verausgabte – ich blieb zappelndes Treibgut.
Zu den unterschätzten Spätfolgen früh erlebter Bildungskrisen gehört das Verleiden. Nach drei Jahren Schwimmunterricht war für mich klar: Kraulen ist wahnsinnig anstrengend. Alle können’s, nur ich nicht. Wenn ich ganz schnell Todesängste erfahren will, muss ich zum Wettkraulen antreten. Und Schwimmlehrer setzen alles daran, ihre Geheimnisse für sich zu behalten.
So schlawinerte ich mich zwei Jahrzehnte als Kraul-Darsteller durchs Leben. Ob See oder Pool, ich machte vier, fünf Armzüge, möglichst laut und spritzend und hektisch, dann eleganter Dreh in die Rückenlage, eine Fontäne in die Luft gespuckt und so gucken, als könnte man bis Ellis Island weiterkraulen.
Nun begab es sich, dass ich Triathlet werden wollte. Schwimmen gehört leider dazu. Und Brust sieht ausgesprochen armselig aus. In einem Anfall von Disziplin nahm ich mir vor gut zehn Jahren vor, dem Schwimmen einen ganzen Winter zu schenken. Zweimal die Woche vor der Arbeit ging ich in die Schwimmhalle, die Bademütze tief ins Gesicht gezogen. Den Rest verdeckte die Schwimmbrille. Was ich tat, war peinlich.
Mein selbst gestaltetes Trainingsprogramm sah vor, jeden Tag ein paar Zentimeter weiterzukommen. Irgendwann würde ich die ganze lange
Weitere Kostenlose Bücher