Bewegt Euch
überlebt und mich auf dem Rad wohlgefühlt. Wenn nur die 20 Kilometer Laufen nicht wären. Ich hatte geschwitzt wie ein Schwein. Zugleich war mein Magen nicht glücklich über Beschäftigung. Ich mischte Cola mit Wasser an den Versorgungsständen, manchmal presste ich auch ein paar Tropfen Isotonisches in die Eingeweide. Soll man nun viel trinken oder nicht? Und: Ist es ein schlechtes Zeichen, wenn der Iso-Drink mitten im Wald wieder ins Freie drängt, mit ziemlichem Druck?
Ich hatte mich gerade auf die dritte von vier Laufrunden begeben. Nur noch acht Kilometer. Wer viereinhalb Stunden gerackert hat, der bleibt nicht einfach stehen. Ich schon – Killerkrämpfe. Ich hüpfte, stretchte, wollte meinen Körper überlisten. Aber von der Leiste bis ins Knie zogen sich beidseitig glühende Drähte. Ich konnte nicht stehen, nicht gehen, nicht sitzen, nur vornübergebeugt sehr, sehr langsam schlurfen. »Komm, ist nicht mehr weit«, japsten Sportsfreunde, die mich überholten. Half nichts. Die Krämpfe hielten mich fest. Das Glück der Selbstüberwindung würde ich heute kaum empfinden.
Zuschauer fragten besorgt, ob sie einen Krankenwagen bestellen sollten. Am liebsten hätte ich »ja« gesagt. Aber wegen Krämpfen aufhören, sich gar abtransportieren lassen? Niemals. Radrennfahrer sollen sich früher mit einer Nadel in die Muskeln gepikt haben, um die Spannung zu lösen. Ich hätt’s getan. Leider hatte ich keine Nadel.
Jeder Versuch, ein paar Schritte zu machen, endete in vornübergebeugtem Schlurfen. Wie hätte ich als Sportreporter diese Szene kommentiert? »DNF is no option«, heißt ein Triathleten-Spruch: DNF steht für »did not finish«, eine Schmach, in der Ergebnisliste bis in alle Ewigkeit archiviert. Für mich würde es heute so weit sein, zum ersten Mal. Ich fühlte mich scheiße. Wenn ich noch einen einzigen Tropfen Flüssigkeit im Körper gehabt hätte, ich hätte geheult. So einsam, so allein, so erledigt.
Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Petrus? War ich gestorben und hatte es gar nicht gemerkt? Aber die Hand gehörte Marco, einem talentierten Läufer, der gerade auf einem seiner 30-Kilometer-Touren war. Er hatte seine Puls uhr gestoppt und redete nicht viel. Aber das Richtige. »Mach dir keinen Stress«, sagte er leise. Dann rannte er davon, um mit einer halb vollen Plastikflasche Wasser zurückzukehren, die er Passanten abgequatscht hatte.
Marco war einfach nur da, redete ein bisschen vor sich hin und gab mir das Gefühl, nicht allein auf der Welt zu sein. Er erzählte von seinen Rennen, die nicht so gelaufen waren, wie geplant. Es waren einige gewesen. Ich hockte am Straßenrand, wohl eine Viertelstunde. Millimeter für Millimeter zogen sich die Krämpfe zurück. An Laufen war nicht mehr zu denken. Aber wenigstens konnte ich gehen. Marco begleitete mich zurück zum Ziel, wo jubelnde Athleten herumhüpften, die gerade gefinisht hatten. Ich fühlte mich elend. Aber ohne Marco hätte ich mich hundertmal elender gefühlt.
Loslassen
Dass der Zeit-Junkie in mir langsam auf Entzug kommt, habe ich zum ersten Mal beim Halbmarathon 2011 in Berlin-Steglitz gemerkt. Ich fühlte mich gut, ein gelegentlicher Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich 21 Kilometer in jeweils fünf Minuten absolvieren würde. War schon schlechter. Im Ziel waren es dann sogar knapp 1:44 h. Beschwingt fuhr ich mit dem Rad nach Hause, kaum drei Kilometer entfernt. Abends stöberte ich durch die Ergebnislisten. Ich fand einige bekannte Namen hinter mir. Freude.
Plötzlich stieg in mir eine Ahnung hoch. Hättest du? Warst du? War ich etwa neue Bestzeit gelaufen? Wo lag mein persönlicher Halbmarathon-Rekord überhaupt? 1:43 irgendwas? Na so was. Ich konnte mich nicht an meine eigene Bestzeit erinnern. Wie peinlich. Da kann man ja gleich sein Geburtsdatum vergessen. Hektisches Wühlen in der Datenbank. Da war es: 2008, 1:43,15 h. Aha. Und heute, in Steglitz, waren es 1:43,30 h.
Ich war drauf und dran gewesen, meinen eigenen Rekord zu schlagen, ohne es zu merken. Hätte mir jemand an der Strecke zugerufen, dass ich elende 15 Sekunden schneller sein müsste, ich hätte sie irgendwo hergeholt. Aber niemand hat mich daran erinnert. Nicht einmal ich selbst.
Und das war gut so. Ich habe mich nicht geärgert, vielleicht zum ersten Mal in meinem Sportlerleben. Sondern ich habe mich gefreut, weil ich noch genauso schnell bin wie ein paar Jahre zuvor.
Ich weiß nicht warum, aber an diesem Sonntag ist etwas sehr Entscheidendes
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