Bewegungswissenschaft
Entwicklungsforschung vornehmlich fähigkeitsorientiert. Grob betrachtet, werden die Motorikdifferenzen über querschnittlich und weniger über längsschnittlich erhobene Fähigkeitsausprägungen und nahezu ausschließlich über das kalendarische Alter gekennzeichnet, seltener über das Geschlecht, das biologische Alter, das Trainingsniveau, die Bewegungsbiografie oder andere Faktoren. Empirische Studien zur gleichzeitigen Prüfung des Einflusses verschiedener Bedingungsvariablen auf die sportmotorische Entwicklung fehlen weit gehend. Die Ursache-Wirkungs-Beziehungen veranschaulichen Entwicklungsforscher mehrheitlich quantitativ-deskriptiv anhand durchschnittlicher Entwicklungskurven. „Für den Verlauf ergibt sich in vielen Fällen für das Kindes- und Jugendalter eine stark ansteigende Kurve, dann ein Kulminationspunkt und für den weiteren Lebensverlauf eine leicht abfallende Kurve“ (W ILLIMCZIK , 1983, S. 249). Insgesamt sollte der Leser bei quantitativ-deskriptiven Charakterisierungen berücksichtigen, dass diese zwar motorische Entwicklungsverläufe beschreiben, sie jedoch nicht erklären können (R OTH & W OLLNY , 1999a, b; W OLLNY , 2002).
Die nachfolgend für das Neugeborenenalter bis Vorschulkindalter (Kap. 3.3.1), das Schulkindalter (Kap. 3.3.2), das Jugendalter (Kap. 3.3.3) und das Erwachsenenalter (Kap. 3.3.4) skizzierten Veränderungsverläufe relevanter Motorikmerkmale orientieren sich zum größten Teil am „Handbuch motorische Entwicklung“ von B AUR ET AL . (1994) und an den beiden Übersichtsartikeln von W ILLIMCZIK (1983) und W INTER (1998). Dargestellt werden die jeweils typischen Lebensanforderungen und das durchschnittliche Ausprägungsniveau der motorischen Basisfähigkeiten, der Alltagsmotorik und der sportmotorischen Fertigkeiten.
3.3.1 Wie bilden sich Bewegungsgrundformen im Neugeborenen- und Vorschulkindalter aus?
Im Neugeborenenalter (1.-3. Lebensmonat) finden entscheidende Entwicklungsvorgänge wie die Entstehung von Objektbeziehungen oder das Verstehen der unmittelbaren Umwelt statt. Die motorischen Verhaltensweisen der Neugeborenen richten sich zunächst auf den Erhalt lebensnotwendiger Körperfunktionen (Atem-, Saug-, Schluck-, Greif-, Rückzieh-, Hustenreflexe usw.). Für jedermann deutlich zu erkennen sind imWachzustand die ungerichteten Massen- und Wischbewegungen der Extremitäten (Strampeln, Beugen, Strecken, Spreizen) und die primitiven Neugeborenenreflexe (Greifen, Schreiten, Kriechen, Schwimmen, Tauchen usw.). Zum Ende des Neugeborenenalters zeigen sich erste zielgerichtete Bewegungen.
Das wichtigste Kennzeichen des Säuglingsalters (4.-11. Lebensmonat) betrifft die schnelle Aneignung fundamentaler koordinierter Bewegungsmuster. Hierzu zählen die aufrechte Körperhaltung, die gezielten Greifbewegungen und die selbstständige Fortbewegung (z. B. Rutschen, Krabbeln, Kriechen; vgl. Abb. 58 ). Infolge der fortschreitenden Hirnreifung und der Hemmung der primitiven Neugeborenenreflexe durch Stellreaktionen (Aufrichtung, Körperhaltung, Fortbewegung), Gleichgewichtsreaktionen (Kopfkontrolle) und Balancereaktionen (Ausgleich-/Gegenbewegungen) können Säuglinge ab dem vierten Lebensmonat mit großen interindividuellen Unterschieden einfache motorische Handlungen realisieren (S CHEID & R IEDER , 2001).
Abb. 58: Streubreite frühkindlicher Bewegungsgrundmuster (mod. nach S CHEID , 1994a, S. 270)
S CHEID (1994a) benennt vier, nicht uneingeschränkt anerkannte Prinzipien der fundamentalen Bewegungsentwicklung: die cephalocaudale Entwicklungsrichtung (Ausbreitung der motorischen Kontrolle vom Kopf über den Rumpf zu den Extremitäten), die proximodistale Entwicklungsrichtung (grobmotorische Ganzkörperbewegung vor feinmotorischen Extremitätenbewegungen), die kontralaterale Mitbewegung der Körperextremitäten und die Hypertonie der Skelettmuskulatur (eckige, ungelenkte Bewegungen durch erhöhte Muskelspannung).
Das Kleinkindalter (1.-3. Lebensjahr) kennzeichnet die erweiterte Mobilität, der Erwerb und die Ausdifferenzierung elementarer Bewegungsformen. Der Kindergartenbesuch leitet die erste Loslösung vom Elternhaus und die schrittweise Erweiterung des sozialen Umfeldes ein. Charakteristisch sind die spielerischen Auseinandersetzungen mit der materialen Umwelt. Als wesentliche Antriebsfaktoren gelten die Neugierde, das Spiel, das Ausprobieren und die Imitation. Typisch für das Bewegungsverhalten von Kleinkindern sind der ausgeprägte Bewegungsdrang, der häufige Wechsel
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