Bewegungswissenschaft
1999, S. 178).
Abb. 35: Dreistufigkeit der Informationsverarbeitung (mod. nach S CHMIDT , 1988, S. 77)
Die erste Stufe der Informationsverarbeitung, die Reizidentifikation (stimulus identification) betrifft die Wahrnehmung der bewegungsrelevanten körperinternen und umweltbezogenen Reizkonstellationen. Den Zeitbedarf für die Reizidentifikation bestimmt die Anzahl der Reiz-Reaktionsalternativen, die Komplexität und die Dauer der Reaktion. Das Zeitintervall wird desto größer, je kleiner die Reizintensität und je größer die Reizkomplexität ist. Für Badminton-, Volleyball-, Tennis- oder Tischtennisspieler ist es von Vorteil, wenn sie mehrere Aufschlagvarianten beherrschen. Hierdurch zwingen sie den Gegenspielern unterschiedliche Antwortmöglichkeiten auf, die ihr Informationsverarbeitungssystem belasten oder ihre Reaktionszeit verlängern.
Die zweite Stufe der Informationsverarbeitung, die Reaktionsauswahl (response selection) umfasst die Selektion des motorischen Programms. Nach dem Gesetz von H ICK steigt der Zeitbedarf mit der Anzahl der Antwortalternativen nahezu linear an (H ICK , 1952). Oder anders ausgedrückt, je mehr Entscheidungen der Athlet treffen muss, desto größer wird die Reaktionszeit ( vgl. Abb. 36 a).
Auf der dritten Stufe der Informationsverarbeitung, der Reaktionsprogrammierung (response programming) erfolgt die Umsetzung des ausgewählten Bewegungsprogramms durch das Zentralnervensystem und die Skelettmuskulatur. Nach dem Gesetz von F ITTS nimmt der Zeitbedarf für die Bewegungsprogrammierung mit der Komplexität und den Geschwindigkeits- und Präzisionsanforderungen der motorischen Fertigkeit zu (F ITTS , 1954).
Abb. 36: Gesetzmäßigkeiten der Informationsverarbeitung und der zentralnervösen Verarbeitungskapazität
a ) Gesetz von H ICK . Wahlreaktionszeiten (ms) in Abhängigkeit von den Antwortalternativen (mod. nach R OTH & H OSSNER , 1999, S. 180)
b ) Yerkes-Dodson-Regel (mod. nach Y ERKES & D ODSON , 1908, S. 461)
Informationsverarbeitungstheorien gehen prinzipiell davon aus, dass die drei Stufen der Informationsverarbeitung – Reizidentifikation, Reaktionsauswahl und Reaktionsprogrammierung – in Abhängigkeit vom Grad des aktuellen Aktivierungsniveaus, unterschiedliche zentralnervöse Verarbeitungskapazitäten verlangen. Die höchsten kognitiven und motorischen Lernleistungen erzielt der Mensch nach der Yerkes-Dodson-Regel (umgedrehte U-Funktion; vgl. Abb. 36 b) bei einem mittleren Aktivierungsgrad (Y ERKES & D ODSON , 1908). „Die Limitierung zeigt sich besonders deutlich, wenn man versucht,zwei oder mehrere Aufgaben gleichzeitig auszuführen. Hierbei treten typischerweise Interferenzen auf, d. h. die erzielten Leistungen in beiden Aufgaben fallen geringer aus als bei getrennter Bearbeitung“ (R OTH & H OSSNER , 1999, S. 183).
3 Welche Theorie kann die Bewegungskontrolle angemessen erklären?
Bis Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts beschreibt eine Vielzahl kontrovers diskutierter Open-Loop-Theorien (Bewegungssteuerung; L ASHLEY , 1917, 1951; H ENRY & R OGERS , 1960; K EELE , 1968) und Closed-Loop-Theorien (Bewegungsregelung; V ON H OLST , 1954; A NOCHIN , 1967, 1969; B ERNSTEIN , 1967, 1988; A DAMS , 1968, 1971, 1976; S OKOLOV , 1969; M EINEL , 1977; U NGERER , 1977) die zwischen der Reizdarbietung und dem beobachtbaren motorischen Handeln liegenden Komponenten und Funktionsprozesse der Bewegungskontrolle. In der aus heutiger Sicht relativ unfruchtbaren Auseinandersetzung ging es primär um die Frage, inwieweit die Motorik allein autonomen Gedächtnisrepräsentationen (Open-Loop-Kontrolle) oder peripheren Wahrnehmungsprozessen (Closed-Loop-Kontrolle) untersteht.
Gerade als die grundsätzliche Kontroverse zwischen Zentralisten und Peripheralisten durch die aufstrebenden Konzepte der Programmvorsteuerung mit kontinuierlicher Systemregelung und der Programm- und Parametertrennung ( mixed approaches ; P EW , 1974; S CHMIDT , 1975, 1976, 1988; M EINEL , 1977; M EINEL & S CHNABEL , 1998; vgl. Kap. 3.1 u. 3.2) als überwunden galt, entzündete sich Mitte der 80er Jahre eine neue heftige Debatte mit ökopsychologischen Handlungstheorien (action approaches; Kap. 3.3.1), konnektionistischen Ansätzen (Kap. 3.3.2) und modularistischen Konzepten (Kap. 3.3.3). Diese kritisieren die explizite Determination der Körperperipherie durch zentralnervöse Repräsentationen ( Hierarchie ). Favorisiert wird die Eigenständigkeit der Peripherie ( Heterarchie ) und die weit gehende
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