Bewegungswissenschaft
die Motorik und das motorische Lernen erklären?
Zunächst erwartet den Leser mit Kapitel 2 eine kurz gefasste Einführung in die wichtigsten Begriffe der Informationsverarbeitungstheorien: prozessorientierte und ergebnisorientierte Erklärungsansätze, Reaktionszeit, Reizidentifikation, Reaktionsauswahl, Reaktionsprogrammierungund Verarbeitungskapazität. Anschließend stellt Kapitel 3 bedeutsame psychologische und bewegungswissenschaftliche Vorstellungen über die Komplexität des motorischen Systems vor. Das in der Bewegungswissenschaft des Sports weit verbreitete motorische Regelkreismodell von M EINEL und S CHNABEL (1998) gilt als ein idealtypisches Beispiel für die Idee der Programmvorsteuerung mit kontinuierlicher Systemregelung (mixed approaches; Kap. 3.1). Einfache motorische Programme dienen der Initiierung einleitender Bewegungssequenzen. Die kontinuierliche Anpassung der Bewegungsausführung an die sich verändernde Umwelt übernehmen rückkopplungsdeterminierte Regelkreise.
Das überaus erfolgreiche Konzept der Programm- und Parametertrennung (mixed approaches) beschreibt Unterkapitel 3.2 an der Theorie generalisierter motorischer Programme (GMP-Theorie) von R. A. S CHMIDT (1975, 1976, 1988). Dieser koordinationstheoretische Ansatz wird aufgegriffen, weil seine Vorstellungen über die Mechanismen und die Funktionsprozesse der Bewegungskontrolle umfassend an alltäglichen und sporttypischen Bewegungsformen empirisch überprüft wurden. Nach der GMP-Theorie steuert ein einzelnes motorisches Rahmenprogramm eine Klasse von Bewegungen mit gleicher zeitlich-dynamischer Struktur (z. B. Handballsprungwurf aus unterschiedlichen Distanzen). Zu den Programminhalten zählen einige wenige invariante zeitliche und dynamische Bewegungskennwerte, die durch spezielle Ausführungsparameter an die jeweiligen situativen Bedingungen angepasst werden können.
Unterkapitel 3.3 skizziert aktuelle Gegenpositionen zu den mixed approaches wie die ökopsychologischen Handlungstheorien (T URVEY , 1977, 1991), den Konnektionismus (R OJAS , 1999, 2004) und die Modularitätshypothese (F ODOR , 1983). Gemeinsames Kennzeichen ist der Verzicht auf zentralnervöse Bewegungsprogramme zu Gunsten der Selbstorganisation der Motorik und spezialisierter lokaler motorischer Mechanismen. Die Inhalte und die Unzulänglichkeiten der Informationsverarbeitungsansätze gibt das Abschlusskapitel 4 wieder.
2 Welche Begriffe sind grundlegend?
Die Theorien und experimentellen Befunde zur Motorik und zum motorischen Lernen systematisiert die sportbezogene Bewegungswissenschaft üblicherweise nach ergebnisorientierten und prozessorientierten Erklärungsansätzen. Während ergebnis-(anwendungs-) orientierte Konzepte die Effekte der Variation äußerer Lernbedingungen hinsichtlich der Nützlichkeit, der Effizienz und der Gestaltung von Lerninstruktionen und Übungsprozessen untersuchen ( vgl. Lektion 7, Kap. 3 ), geht es prozess-(grundlagen-) orientierten Ansätzen um die Aufklärung der körperinternen motorischen Kontrollmechanismenund Funktionsprozesse (vgl. Kap. 3). Der Mensch wird in Anlehnung an kybernetische und kommunikationstheoretische Vorstellungen als ein ausgiebiger Informationsverarbeiter angesehen, der ständig Afferenzen und Reafferenzen aufnimmt, diese mit seinem Wissen in Beziehung setzt, um hieraus situationsadäquate Handlungen abzuleiten. Die vollendete Beherrschung motorischer Fertigkeiten hängt von der Fähigkeit ab, zwischen einer Vielzahl verschiedener Reize sinnvoll zu unterscheiden und Informationen schnell zu übermitteln, zu speichern und abzurufen.
Als zuverlässiger Indikator für die Dauer der Entscheidungsfindung gilt die Reaktionszeit. Dieses Merkmal beschreibt das Zeitintervall zwischen der Reizaufnahme und der sichtbaren motorischen Reaktion auf den dargebotenen Reiz. Die Reaktionszeit des Menschen auf taktile Signale beträgt 0.09-0.18 s, auf akustische Signale 0.1-0.27 s und auf optische Signale 0.1-0.35 s. Reaktionszeitstudien von H ICK (1952), H YMAN (1953), H ENRY und R OGERS (1960) oder S CHMIDT (1988) legen für die Bewegungskontrolle die Vorstellung einer Dreistufigkeit der Informationsverarbeitung nahe: die Reizidentifikation, die Reaktionsauswahl und die Reaktionsprogrammierung ( vgl. Abb. 35 ). Dieser Informationsverarbeitungsprozess muss in serieller (syn. sequenzieller) Abfolge durchschritten werden, „um auf eine gegebene Reizkonstellation eine angemessene Reaktion zu erhalten“ (R OTH & H OSSNER ,
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