Bewusstlos
Minute, bis sie auftauchte.
Sie umarmten sich noch vor dem Haus. Lange. Dann küssten sie sich.
Sein Vater sah ihr ins Gesicht, sagte etwas, lächelte, strich ihr übers Haar und führte sie ins Haus.
Raffael ließ das Fernglas sinken. Das war ja nicht zu fassen.
Die Wut kam augenblicklich in ihm hoch, und er trank eine halbe Flasche Wein in einem Zug.
Das war keine Göttin. Die Frau, die auf seine kleine Schwester aufpassen durfte, war nichts weiter als eine Schlampe, eine billige Nutte.
Siros Hütte lag inmitten der Oliven auf einem kleinen Plateau, auf dem sieben uralte Feigenbäume standen. Zwischen den Feigen hatte Siro im Kreis Holzstümpfe und in der Mitte ein ausgedientes Mühlrad platziert, die gesamte Kombination diente als Sitzecke, wenn sich die Pflücker während der Weinlese eine Weile ausruhten, Mittagspause machten, Brot und Käse aßen und Wein dazu tranken.
»Alle Pflücker lieben die Weinlese«, hatte Karl einmal gesagt. »Aber nicht, weil es so toll ist, im Oktober bei Wind und Wetter den ganzen Tag Trauben zu pflücken, sondern weil sie so gern zusammensitzen. Das sind wahrscheinlich die schönsten Stunden im ganzen Jahr. Sie erfahren alles, was in der Gegend passiert ist, und treffen Freunde, denen sie sonst monatelang nicht über den Weg laufen.«
Von Siros kleiner Terrasse, die Paola immer an eine indianische Feuerstelle erinnerte, hatte man einen direkten Blick auf die Tabakfabrik tief unten im Tal. Ein hässlicher, grauer, langgestreckter Kasten mit einem riesigen Parkplatz, auf dem nie ein Auto stand, weil die Fabrik seit Jahren stillgelegt war.
»Schade«, hatte Paola zu Siro gesagt, als sie Vasco abholte, der bei Siro gearbeitet hatte, »du hast so ein süßes Haus. Es ist ein herrlicher Platz mit einer einzigartigen Terrasse, weil sie so viel Atmosphäre hat. Aber der Blick auf die Tabakfabrik ist schrecklich. Stört dich das nicht?«
Siro hatte breit gegrinst und gesagt: » Du siehst die Fabrik, ich nicht. Dich stört sie, mich nicht. Das ist das Magische an diesem Ort. Wenn du dich lange genug darauf einlässt, wird er immer schöner, und alles Störende verschwindet. Für mich gibt es die Tabakfabrik nicht mehr.«
Ein halbes Jahr später starb Siro. Aber seine Hütte blieb der Treffpunkt bei der Weinlese, man aß und trank zusammen und sprach über Siro, den niemand vergessen konnte und der jedem fehlte.
Die übrige Zeit stand die Hütte leer.
Keiner wusste, was damit geschehen sollte, die Erben waren schwer zerstritten, und so wurde das romantische kleine Haus auf diesem paradiesischen Fleckchen Erde noch nicht einmal verkauft.
Aber Karl hatte einen Schlüssel. Denn er war mit Siro eng befreundet gewesen, hatte die schweren und nötigsten Einkäufe für ihn erledigt, als der Weg für Siro immer beschwerlicher wurde, und hatte so manche Sommernacht mit ihm vor dem Haus gesessen und geredet.
Und er hatte Siro getröstet, als Jahre zuvor dessen Frau ganz plötzlich gestorben war.
Das war die Zeit, als Siro die ganze Welt verfluchte und die Tabakfabrik wieder sah.
»Du kommst spät«, sagte er, als sie das Haus betraten.
»Ich musste auf deine Frau warten«, erklärte sie entschuldigend, »sie war im Dorf und hatte sich ein bisschen verspätet.«
»Ach so.«
»Weißt du, dass ich jedes Mal vor Angst sterbe, dass sie mir folgt oder dass sie vielleicht mit Stella mal einen Spaziergang durch die Weinberge macht und uns hier sieht? Durchs Fenster guckt oder reinplatzt … Carlo, das ist der Horror! Davon träume ich jetzt nachts schon.«
»Keine Angst«, flüsterte er und verschloss ihren Mund mit einem Kuss. »Soll sie doch kommen. Dann hat das Versteckspiel endlich ein Ende.«
Paola ließ sich fallen. Aller Ärger, alle Anspannung fielen von ihr ab. Etwas Schöneres hätte er nicht sagen können. Sie hatte noch nie mit ihm darüber gesprochen, aber sie träumte davon, eines Tages mit ihm zu leben. Nicht irgendwo, nein, wenn, dann nur auf der Burg, im Castelletto. Sollte er seine Frau doch endlich zum Teufel jagen! Christine liebte ihn sowieso nicht mehr. Ihre Augen waren ohne jede Herzlichkeit. Auch wenn sie ihn ansah. Paola hatte das genau bemerkt.
Und ihr war auch Vasco egal. Er betrog sie schon viel länger als sie ihn, und noch blieb sie nur bei ihm, weil sie dadurch ein Dach über dem Kopf hatte und ihren Verdienst vom Castelletto fast vollständig für sich behalten konnte. Vasco bezahlte allein die Miete ihres schmalen Häuschens, das nur dreiundsechzig
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