Bewusstlos
dabei ist, durch staatliche Willkür seine gesamte Existenz zu verlieren? Alles, wofür man sein Leben lang gearbeitet hat?«
»Vielleicht«, murmelte Paola und gähnte. »Ich versteh dich ja, du kannst auch ruhig hingehen, aber es nutzt nichts. Die Interessen des Staates gehen nun mal vor in Italien. Die sind immer wichtiger als die Interessen des Einzelnen. Da kannst du dich auf den Kopf stellen. Da kannst du klagen, bis du schon hundert Jahre tot bist, du erreichst nichts. Du bist machtlos. Auch wenn dir die halbe Toskana gehört. Wenn sie auf deinem Grundstück solche Dinger hinstellen wollen, dann stellen sie sie hin. Punkt, aus, basta. Italiener gehen nicht vor Gericht. Weil es sinnlos ist. Und darum gehen sie auch nicht zu solchen komischen Versammlungen. Ich wette, da sitzen heute Abend nur Deutsche und Amerikaner.«
Karl wusste im Grunde seiner Seele, dass sie recht hatte, aber er hatte dennoch Lust, ihr eine runterzuhauen, so sehr ärgerte ihn, was sie gesagt hatte. Vor allem regte ihn auf, dass sie ihn nicht einfach umarmte und sagte: »Oddio, das ist ja schrecklich!«
Ihr Entsetzen und ihr Mitgefühl hätten ihm gutgetan.
Sie hatte einen wunderschönen Körper, aber man konnte sich nicht mit ihr unterhalten. Vielleicht über die Preise im Supermarkt, aber nicht über wirklich wichtige Themen.
Plötzlich wollte er nur noch weg. Weg, nach Hause, ins Castelletto.
Und in diesem Moment bekam er wieder panische Angst, dass Christine von dieser Eskapade etwas erfahren könnte.
Diese ganze Affäre war eine einzige Dummheit.
Ungefähr zweihundert Meter gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann kam die Abzweigung, wo sich der Weg gabelte, und Paola blieb stehen. Sie sah traurig aus.
»Wir dürfen nicht streiten«, sagte sie. »Es bringt nichts.«
»Das war doch gar kein Streit!«
»Doch, das war es. Du bist sauer auf mich, ich weiß. Weil du anders denkst. Aber du solltest wirklich nicht wütend sein. Ich hab ja nichts gegen dich gesagt. Ich hab dir nur gesagt, wie wir Italiener denken.«
»Schon gut.« Sie hatte zwar überhaupt keine Ahnung, war schrecklich naiv und hatte wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben ein Buch gelesen – aber sie hatte zumindest Herzensbildung. Sie spürte, wenn etwas nicht stimmte.
»Sehen wir uns Montag?«, fragte sie leise.
»Sicher.« Dabei war er sich zum ersten Mal überhaupt nicht sicher, ob er wirklich wollte.
Er küsste sie lediglich auf die Stirn.
Paola ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken, drehte sich abrupt um und lief den Weg hinunter zum Parkplatz, während Karl weiter die Terrassen entlang bis zum Castelletto ging.
40
Karl schnarchte leise. Normalerweise beruhigte es sie, weil sie wusste, er war da, es konnte nichts geschehen. Heute hinderte es sie daran, wieder einzuschlafen.
Das erste Morgenlicht drang ins Zimmer.
Christine drehte sich von der rechten auf die linke und dann wieder auf die rechte Seite, versuchte es auf dem Bauch und auf dem Rücken, aber es hatte keinen Zweck. Sie fand keine Ruhe mehr, erstellte Einkaufslisten im Kopf, überlegte, wen sie anrufen und wem sie dringend eine Mail schicken musste. Der Wasserhahn im Bad von Appartement zwei war kaputt, das lag daran, dass Cecilia ihn immer mit aller Gewalt zudrehte, bis die Dichtungen im Eimer waren, der musste repariert werden, und das digitale Fernsehbild der deutschen Sender flackerte, sie musste dringend einen Fernsehtechniker bestellen. Und sie musste zur Post und zur Bank und zum Arzt, sich neue Rezepte ausstellen lassen. Ihr Antiallergikum war aufgebraucht.
Es war zu viel. Hier im Bett im Halbschlaf wurden die Listen immer länger und chaotischer, sie musste aufstehen.
Christine warf einen Blick auf die Uhr. Zehn vor sechs. Karl würde noch eine gute Stunde schlafen. Aber sie konnte sich ja schon mal einen Kaffee kochen und sich auf die Terrasse setzen. Morgens, wenn noch keine Gäste wach waren, war es draußen in der Stille und der Kühle einfach herrlich.
Leise stand sie auf, zog ihre Sandalen und ihren Morgenrock an, öffnete die Schlafzimmertür, ging hinaus und schloss sie wieder. Vor Stellas Zimmertür horchte sie – es war alles still. Auch Stella schlief noch.
Christine schlich die Treppe hinunter und trat hinaus auf den Portico.
Und da durchfuhr sie ein eisiger Schreck.
Auf dem Hof saß ein Mann. Vollkommen unbeweglich. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und sah sie nicht.
Die Angst lähmte sie. Sie konnte weder etwas sagen noch sich bewegen.
Sie
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