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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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wusste nur eines: Das war keiner ihrer Feriengäste.
    Wie ein Fieber kroch die Panik durch ihren ganzen Körper. Eine diffuse, unbegreifliche Angst erfasste sie, eine düstere Ahnung, und ihr Herz schlug bis zum Hals. Wer war das? Wer saß da? Sie zitterte so, dass sie sich an der Mauer festhalten musste, aber dann schaffte sie es endlich, sich umzudrehen und die Treppe im Turm so geräuschlos wie möglich hinaufzurennen.
    Sie stürzte ins Schlafzimmer und schüttelte Karl.
    »Karl«, hauchte sie atemlos, »Karl, komm mal, da draußen auf dem Hof sitzt ein Mann!«
    »Na und«, grunzte Karl, »lass ihn doch. Wahrscheinlich kann einer der Gäste nicht schlafen. So wie du.«
    »Nein, das ist keiner unserer Gäste. Das weiß ich. Das ist ein Fremder.«
    Die Panik und die Angst in ihrer Stimme veranlassten Karl aufzustehen und zum Fenster zu gehen.
    Der Mann saß immer noch da.
    Karl riss das Fenster auf.
    »Buongiorno!«, brüllte er. »Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?« Erst jetzt begriff er, dass er deutsch gesprochen hatte, und wiederholte seine Frage auf Italienisch. »Chi è? Che cosa vuole?«
    Der Mann rührte sich nicht. Er bewegte sich überhaupt nicht, saß so unheimlich ruhig da, als wäre er tot.
    Es war seine Bühne.
    Jetzt war er der Hauptdarsteller, und die anderen hatten schon begonnen, ihre Rolle zu spielen.
    Sie wussten es nur nicht.
    »Was ist das für ein Idiot?«, flüsterte Karl.
    Er griff seinen Bademantel, zog ihn über, sowie seine Schuhe und rannte die Treppe hinunter. Christine folgte ihm.
    Sie öffneten die Tür zum Portico, liefen die steinerne Treppe hinunter und über den Hof zu dem Fremden.
    Langsam hob er den Kopf und sah sie beide an. Verzog lediglich die Mundwinkel zu dem Ansatz eines Lächelns. Aber seine Augen blieben starr.
    Karl war verunsichert. Der Fremde kam ihm verdammt bekannt vor.
    Und dann sagte der Fremde leise: »Erkennt ihr mich nicht? Mutter? Vater?«
    Weder Karl noch Christine waren in der Lage zu reagieren. So geschockt waren sie. Und vollkommen verwirrt.
    Quälende Sekunden lang passierte gar nichts.
    »Ich weiß, es ist früh«, sagte Raffael in die Stille. »Aber krieg ich vielleicht ’nen Kaffee?«
    »Ja, sicher«, stammelte Christine, blieb aber stehen und machte keine Anstalten, in die Küche zu gehen.
    Karl hatte sich noch nie in seinem Leben so hilflos gefühlt.
    »Raffael«, flüsterte er. »Bist du’s wirklich?«
    »Ihr habt wohl nicht damit gerechnet, mich noch mal wiederzusehen?« Raffael lächelte. »Tja, nun bin ich hier.«
    Christine konnte immer noch nichts sagen.
    Jetzt stand Raffael auf und sah sich demonstrativ um.
    »Schön habt ihr’s hier. Sehr schön. Ich hab mich mal ein bisschen umgesehen. Meine letzte Wohnung war insgesamt nicht so groß wie euer Pool.«
    Karl schwieg.
    »Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen?« Christine konnte kaum sprechen.
    »Ich war hier und da und dort. Und hab euch gesucht. Seine Familie sollte man nie aus den Augen verlieren. Ihr habt mir ja noch nicht mal geschrieben.«
    »Ja, wohin denn?« Jetzt war Christine den Tränen nahe. »Du warst verschwunden, abgehauen, wir hatten keine Adresse, nichts von dir. Wir wussten ja all die Zeit noch nicht mal, ob du noch lebst!«
    Sie fing an zu weinen, und Karl legte den Arm um sie.
    Diese drei Menschen, die einmal Mutter, Vater, Sohn gewesen waren, standen sich stocksteif gegenüber. Bewegungslos. Als schämten sie sich.
    »Ihr habt mich noch nicht mal gesucht.«
    »Natürlich haben wir das!« Karl konnte es kaum noch aushalten. Sein Sohn kam nach Hause, man sah sich nach zehn Jahren zum ersten Mal, und statt einer Begrüßung hagelte es Vorwürfe. »Wir haben wirklich alles versucht, Raffael. Wir haben dich sogar bei der Polizei als vermisst gemeldet.«
    Raffael überlegte einen Moment. Jedenfalls sah er so aus, als würde er überlegen. Er hatte den Kopf gesenkt und drehte seine Schuhspitze auf dem Stein hin und her.
    Dann sah er auf und zeigte ein strahlendes Lächeln.
    »Aber nun ist ja alles gut, nicht? Ich bin wieder zu Hause. Hallo, Mama! Hallo, Papa! Ich bin wieder da!«, rief er und breitete die Arme aus.
    Er war der King, er ließ die Puppen tanzen, aber nach zehn Jahren Abwesenheit bereitete ihm sein Volk nicht den gebührenden Empfang.
    Es dauerte ihm ein bisschen zu lange, bis Christine kam und ihn umarmte. »Willkommen«, flüsterte sie, »ich bin so froh, dass du gekommen bist.«
    Tränen tropften auf seinen Ärmel, aber er rührte sich nicht.
    Und daran

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